So jedenfalls müssen wir, auf der Grundlage des Titels wie des Endes, das Erzählprogramm des anonymen Autors der Historia von 1587 wohl verstehen. Der weitere Titel formuliert genau in diesem Sinn:
Mehrertheils aus seinen eygenen hinderlassenen Schrifften / allen hochtragenden/ fürwitzigen und Gottlosen Menschen zum schrecklichen Beyspiel / abscheuwlichen Exempel / und treuwherziger Warnung zusammen gezogen und in den Druck verfertiget.
Was das Programmatische betrifft, lässt diese Ankündigung keine Fragen offen. Dennoch wird sich zeigen, dass die Historia gerade deshalb so fragwürdig ist, weil ihr erklärtes Programm nicht durchweg aufgeht und womöglich sogar ins Gegenteil umschlagen kann. Dazu nachher mehr.
Zunächst zu einer näherliegenden und dringlicheren Frage: Wer ist oder war dieser Doktor Johann Faustus, der hier so emphatisch als Negativexempel eingesetzt wird?
SCHRIFTEN UND SPUREN
Mit dieser Frage nun bewegen wir uns historisch ein ganzes Stück zurück und müssen auf die frühen Jahrzehnte des 16. Jahrhunderts blicken, gut ein bis zwei Generationen bevor die Historia im Druck erschien. Nach den Spuren der historischen Faust-Gestalt zu suchen ist insgesamt eine sehr mühselige und strittige Unternehmung, mit der sich die Forschung seit geraumer Zeit beschäftigt und zu der es bis heute keine einheitliche Meinung gibt. Dennoch müssen wir uns dieser Frage stellen, wenn es – gemäß der eingangs aufgestellten These – zu untersuchen gilt, wie und wodurch Faustus zu einem Renaissance-Mythos geworden ist.
Einen ersten Hinweis gibt uns wiederum der Titel der Historia. Wie eben zitiert, wird darin nicht nur behauptet, es handele sich um eine wahre Lebensgeschichte, sondern auch, dass diese Darstellung von Faustens Leben „mehrenteils seinen eigenen hinterlassenen Schriften“ folge, also gewissermaßen aus erster Hand erzählt sei. Davon trifft allerdings nur so viel zu, dass die Historia ein Kompilat aus vielen vorliegenden Schriften ist, darunter jedoch keiner einzigen, die von ihrem Titelhelden selbst stammt. Wer immer dieser Faustus war oder gewesen sein könnte, er hat jedenfalls keine Schriften hinterlassen und sehr wahrscheinlich nie welche verfasst. Dagegen gab es um 1500 eine ganze Reihe großer europäischer Gelehrter oder Humanisten, die mit Geheimwissen und Magie in Zusammenhang standen, darunter so gewichtige Figuren wie Heinrich Cornelius Agrippa von Nettesheim, der Mediziner Paracelsus oder der Philosoph Johannes Trithemius, Abt in Sponheim. Sie alle waren weithin anerkannte, wenn auch oft umstrittene Autoren, deren Werke über die hermetischen Wissenschaften große Wirkung hatten, viel gelesen und vielfach debattiert wurden.
Unter dem Sammelbegriff „hermetische Wissenschaften“ versteht man das okkulte, d. h. geheime Wissen, wie es in der Renaissance verbreitet war und das landläufig als „Alchemie“ oder „Magie“ bekannt ist. Es speist sich aus antiken Quellen und geht zurück auf einen Bestand an alten Schriften, die unter dem Namen Hermes Trismegistos aus dem hellenischen Ägypten überliefert sind.7 Jahrhunderte lang befand sich das Zentrum dieses hermetischen Wissen in Byzanz bzw. Konstantinopel, d. h. am Ort der hellenischen Diaspora, bevor es nach der türkischen Eroberung dieser Stadt im Jahre 1453 – ein Datum, das oft als Beginn der Renaissance gesetzt wird – mit den vertriebenen Gelehrten in den westlichen Mittelmeerraum und besonders nach Italien gelangte. Dort gab, vor allem im Florenz der Medici, das Corpus Hermeticum die entscheidenden Impulse für das Aufblühen des Neuplatonismus und damit für die neuerliche Auseinandersetzung mit den alten griechischen Ideenwelten, die jetzt durch Übersetzung und philosophische Weiterentwicklung in Verbindung mit christlicher Theologie und jüdischer Kabbalistik gebracht wurden. Durch das Wirken dieser Florentinischen Schule, die sich als Re-Inszenierung der platonischen Akademie verstand, und ihrer namhaften Vertreter wie Marsilio Ficino oder Pico della Mirandola verbreiteten sich die hermetischen Wissenschaften auch nach Nordeuropa und gingen in die Kultur der Renaissance ein. Die genannten Humanisten und Gelehrten bezogen ihr okkultes Wissen über eben diese Quellen und gelten in diesem Sinne alle als hermetische Autoren.
Einen Autor namens Faustus aber gab es nicht. Was an Schriften, wie es der Titel der Historia behauptet, „von“ ihm hinterlassen sein soll, können tatsächlich nur Schriften über ihn gewesen sein. Davon nämlich gibt es viele und zwar schon hundert Jahre vor Drucklegung der anonymen Historia.8 Bereits in den 1480er Jahren finden sich erste Spuren in diversen Quellen, die zumeist dem Umkreis der Universität Heidelberg entstammen, einem deutschen Zentrum des Neuplatonismus und der humanistischen Gelehrsamkeit. Die historischen Hinweise verdichten sich nach der Wende zum 16. Jahrhundert. Immer wieder ist von einem Faustus die Rede und zwar zumeist im Zusammenhang mit Wahrsagerei, Astrologie, Beschwörungsakten und sonstigen fragwürdigen Zaubereien. Darunter finden sich übrigens etliche Aussagen, die das geographische wie kulturelle Umfeld von Eichstätt betreffen. An der Universität von Ingolstadt soll ein gewisser Georgius Faustus Vorlesungen über Philosophie und Chiromantie (das ist die Handlesekunst) gehalten haben. Georg Schenck von Limpurg, ein bedeutender Geist jener Zeit und später Bischof von Bamberg, der zu einem der großen Repräsentanten des Goldenen Zeitalters in der Kulturgeschichte Frankens wurde, hat damals in Ingolstadt studiert. 1518, als er glanzvoll Hof hielt, sollte er sich von einem fahrenden Astrologen namens Faustus sein Horoskop erstellen lassen und damit zum Auftraggeber des umstrittenen Wahrsagers und Beschwörungskünstlers werden. Zehn Jahre später berichtet Prior Kilian Leib aus Rebdorf ebenfalls über eine astrologische Expertise, die Faustus gestellt habe; im Juni 1528 wurde er deshalb aus Ingolstadt ausgewiesen. Andere Quellen sprechen immer wieder von angeblichen Flugversuchen, die Faustus unternommen haben soll, um seine Kunst unter Beweis zu stellen.
Es ist bei weitem nicht immer klar, ob solche Hinweise jeweils dieselbe Person betreffen. Allein der Name variiert erheblich. Als aussichtsreichster Kandidat einer historischen Faust-Figur gilt ein gewisser Georg Helmstetter, auf dessen Lebensweg, soweit er sich in archivierten Spuren niederschlägt, viele der genannten Quellenfunde hinzudeuten scheinen. Feststeht jedenfalls, dass viele prominente Zeitgenossen des frühen 16. Jahrhunderts einen Gelehrten namens Faustus anführen und zahlreiche Geschichten über ihn erzählen, die einschlägig auf Magie und Hermetismus verweisen und die später in erweiterter und zum Teil erheblich spektakulärerer Form in der Historia wiederkehren. Zumeist sind dies – und das ist zweifellos bedeutsam – klare Abschreckungsgeschichten. Zu den prominentesten Vertretern jener Zeit, von denen wir auf diese Weise einiges von Faustus und seinem Teufelsverkehr hören, zählen beispielsweise die großen Wittenberger Reformatoren. Luther kommt in seinen Tischreden wie auch Melanchthon in seinen Sonntagspredigten immer wieder auf Faustus zurück. Beide wurden damit gleichermaßen zu den wirkungsvollsten Überlieferern seiner Geschichte. Mit den vielfachen Erzählungen und Erwähnungen in diesem Kontext gerät die Figur immer stärker in die zeitgenössischen Debatten und Konflikte um die Neuordnung der Kirche und der Religion. Das sollte sich für ihre weitere Wirkung als sehr folgenreich erweisen. Spätestens seit den 1520er bis 30er Jahren wird Faustus zu einer protestantischen und polemischen Figur, die in den Auseinandersetzungen der Römischen Kirche mit der Reformation wie zugleich auch bei den Auseinandersetzungen innerhalb des Protestantismus oft und gern beschworen wird. Hätte es Faustus nie gegeben, so kann man diesen Tatbestand zusammenfassen, hätte man ihn hierzu wohl erfinden müssen, denn in den erbitterten Glaubens- und Machtkämpfen der Renaissance spielt er bald eine unersetzliche Rolle. Es hat ihn aber offenbar gegeben, und ehe wir auf die Reformatoren zurückkommen, sollten wir wenigstens eine der dokumentarischen Spuren, die er hinterlassen hat, kurz betrachten.
TITEL UND NAMEN
Es handelt sich um ein besonders aufschlussreiches Dokument, das als einziges „Selbstzeugnis“ des historischen Faustus angesehen werden kann,9 und zwar um nichts Geringeres als seine Visitenkarte. Wir wissen davon aus einem Brief, den der schon erwähnte Philosoph Trithemius im Jahr 1507 schrieb. Da dem Adressat des Briefes, wie es scheint, dieselbe Visitenkarte vorlag, kann man mit einiger Plausibilität annehmen, dass ihre Aufschrift einigermaßen wörtlich wiedergegeben wurde. Sie lautet:
Magister Georgius Sabellicus Faustus iunior, fons necromanticorum, astrologus, magus secundus,