Die Begegnung zwischen Karl V. und Alexander dem Großen wird im 33. Kapitel der Historia erzählt, das zugleich ihren dritten und letzten Teil eröffnet. Diesen Teil kündigt der Autor mit folgenden Worten an: „Folgt der dritt vnd letzte Theil von D. Fausti Abenthewer / was er mit seiner Nigromantia an Potentaten Höfen gethan vnd gewircket. Letztlich auch von seinem jämmerlichen erschrecklichen End vnd Abschiedt“.3 Diese Überschrift gibt also nicht nur preis, von welchen Abenteuern im Weiteren die Rede ist, sie gibt zugleich eine Vorausdeutung auf das bevorstehende Ende der Geschichte, und sie gibt die Wertungsperspektive vor, unter der wir all das sehen sollen: Ein jämmerliches und schreckliches Ende wird es sein, wenn Faustus schließlich für seine Schandtaten zur Rechenschaft gezogen wird. Von diesem furchterregenden Schluss jedoch sind wir vorerst noch weit entfernt. Zu Beginn des dritten Teils erleben wir Faustus vielmehr auf der Höhe seiner Macht. Kein Geringerer als der Kaiser selbst verlangt nach seinen Diensten und zeigt sich, wie wir lesen, mit ihnen hochzufrieden. Mit Hilfe jener Schwarzen Künste, die Faustus zu Gebote stehen, lässt Karl sich seinen lang gehegten Wunsch erfüllen und beugt sich sogar der Befehlsgewalt des fahrenden Gelehrten. Sobald er die Erscheinung Alexanders berühren will, weist Doktor Faustus ihn zurück – und Karl gehorcht. Wie ungeheuerlich eine solche Umkehrung der Machtverhältnisse am Kaiserhof für zeitgenössische Leser gewirkt haben muss, können wir vielleicht ermessen, wenn wir bedenken, dass Karl V. immerhin derselbe Kaiser war, dem Doktor Luther 1521 auf dem Reichstag zu Worms gegenüberstand, als er sich weigerte zu widerrufen. Was für eine Bannkraft ist es also, die jener Wanderdoktor namens Faustus ausübt? Über welche Autorität, welche Macht verfügt er, dass sich ihr sogar der Kaiser fügt?
Gegen Ende des zitierten Kapitels der Historia gibt Karl dazu einen interessanten Hinweis, wenn er sagt (und der Erzähler gibt hier die kaiserlichen Gedanken wieder): „nun hab ich zwo Personen gesehen / die ich lang begert habe […] gleich wie das Weib den Propheten Samueln erweckt hatt“.4 Das „Weib“, an das Karl denkt, ist das sogenannte Weib zu Endor, eine Wahrsagerin, von der im Alten Testament erzählt wird. Im Buch Samuel (1 Samuel 28) lesen wir, wie sie für König Saul den Geist seines verstorbenen Vaters aus der Erde hervorgezaubert hat. Auf diesem Hintergrund rückt die Begegnung zwischen Kaiser Karl und Alexander dem Großen also in die Nachfolge einer biblischen Begebenheit. Das gibt uns einen klaren Hinweis auf die Parallele, die wir ziehen sollen, und damit auf die Genealogie, die auf diese Weise konstruiert wird. Genauso wie dem König Saul durch Zauberkraft des alten Weibs einstmals sein eigener Vater dargeboten wurde, so wird dem Habsburger Weltherrscher hier der größte Weltherrscher der Antike vorgeführt, Alexander, der damit – und das ist entscheidend – ebenfalls eine Vaterrolle übernimmt. Alexander verhält sich jetzt zu Kaiser Karl wie Samuel zu König Saul. Aus diesem Grund kann man sagen, dass uns hier der Mythos der Renaissance vorgeführt wird, denn hier nimmt Karl als aktueller Weltregent in Anspruch, der Sohn, d. h. der Abkömmling jenes antiken Weltregenten zu sein. Die Autorität der Frühen Neuzeit versichert sich an der Autorität des längst Vergangenen. Das Alte wird geradezu heraufbeschworen, um das Neue zu legitimieren, oder auch: Das Neue kann nur dadurch Anerkennung und Bedeutung finden, dass es sich als Wiederkehr und Wiederholung des Antiken inszeniert.
Das genau bedeutet ja im Wortsinn „Renaissance“: Wiedergeburt. Und genau aus diesem Grund ist das Erkennungsmal am Körper Alexanders so entscheidend, die Warze, anhand derer ihn der Kaiser identifiziert. Nur wer nämlich von derlei intimen Körpermalen weiß, ist mit dem Überlieferten offensichtlich so vertraut, dass er eine solche Genealogie in Anspruch nehmen kann. Die Identifikation des Anderen dient zur Identifizierung des Selbst, so dass die Ankunft des Neuen als Abkunft vom Alten dargestellt wird. Das aber zeigt nicht nur den Mythos der Renaissance, sondern überhaupt das Mythische schlechthin. Sich mit dem, was von alters her erzählt wird, zu identifizieren, sich im Hergebrachten zu spiegeln und darin immer wieder und zumal in Krisenzeiten vergewissern zu können, unsere je aktuelle Selbstverständigung also dadurch zu gewinnen, dass wir auf vorrätige Figuren, Bilder und Geschichten zurückgreifen und sie in unseren Dienst stellen: Das verstehe ich als Leistung des Mythos, und das leistet für die Renaissance das große Repertoire der antiken Überlieferungen. Alexander der Große steht hier gewiss nur als ein Repräsentant dieses großen Zusammenhangs von Texten und Figuren, die aus dem Altertum in die Neuzeit ragen und die immer wieder neu und programmatisch anzueignen sind. Die Frage also, die wir im Zusammenhang mit Faustus untersuchen müssen, lautet: Welche Rolle spielt dabei die Magie? Was leistet seine Zaubermacht für dieses Programm?
HEILIGE UND GOTTLOSE
Faustus ist ja seinerseits ein Mythos der Renaissance, aber ein höchst sonderbarer. Wie wir in der Historia lesen, bietet seine Beschwörungsmacht auf kaiserlichen Wunsch die Chance, die Selbstpositionierung der höchsten weltlichen Autorität zu zeigen und damit den Renaissancekaiser als Wiedergänger eines großen Vorfahren zu inszenieren. Andererseits lässt gerade die Historia keinen Zweifel, dass solcherlei Beschwörungen als Schwarze Kunst und Teufelsspuk zutiefst verdammungswürdig sind. Wir sind, wie gesagt, im dritten Teil der Geschichte, der, wie die Überschrift ankündigt, mit Faustens schrecklichem Tod endet. Doch schon bevor wir überhaupt mit der Lektüre dieser Lebensschilderung beginnen, stellt der Titel der Historia alles klar:
Historia von D. Johann Fausten / dem weitbeschreyten Zauberer vnnd Schwartzkünstler / Wie er sich gegen dem Teuffel auff eine benandte Zeit verschrieben / Was er hierzwischen für seltsame Abentheuwer gesehen / selbs angerichtet vnd getrieben / biß er endtlich seinen wol verdienten Lohn empfangen.
Wie im 16. Jahrhundert üblich, gibt uns der Buchtitel gleich eine Zusammenfassung der Geschichte, die darin erzählt wird, und eine klare Wertung ihres Endes: der wohlverdiente Lohn für einen Teufelspakt, so viel ist klar, kann nur ein grausamer Tod ohne Errettung der Seele sein. Und tatsächlich, am Ende des 68. Kapitels kommt es genau so. Es ist Mitternacht, die Frist ist abgelaufen, aus Faustens Stube hören die Studenten „ein greuwliches Pfeiffen vnnd Zischen / als ob das Hauß voller Schlangen / Natern vnnd anderer schädlicher Würme were“. Doktor Faustus „hub an vmb Hülff vnnd Mordio zu schreyen“. Als es tagt, treten die Studenten in die Stube, sehen aber keinen Faustus mehr, stattdessen bietet sich ihnen folgender Anblick: „die Stuben voller Bluts gesprützet / Das Hirn klebte an der Wandt / weil jn der Teuffel von einer Wandt zur andern geschlagen hatte. Es lagen auch seine Augen vnd etliche Zäen allda / ein greulich vnd erschrecklich Spectackel“.5 Das ist es in der Tat. Die gleiche Art Horror, wie heutzutage die Splatter Movies, bot damals das Ende der Historia von D. Johann Fausten: Blut- und Hirnspritzer an der Wand, herumliegende Körperteile, herumkullernde Augen – ein besonders aufschlussreiches Detail, das genauere Betrachtung lohnt – und ausgebrochene Zähne. Drastischer ist das Ende eines Sünders wohl nicht darstellbar.
Genau darauf kam es offensichtlich an. Um dieses Endes willen wird die gesamte Historia erzählt, von diesem Schrecken leitet sich ihre Motivation her, das Leben des schändlichen Doktors für christliche Leser auszubreiten. Man nennt dieses Verfahren eine Motivation „von hinten“,6 um die besondere Erzählweise und Logik solcher Exempelgeschichten zu charakterisieren. Es ist dieselbe Erzählweise und Logik wie von Heiligenlegenden, bei denen die Zentralfigur des Heiligen ja ebenfalls nur dazu dient, ein beispielhaftes Lebensmuster vorzuführen, so dass alles Geschehen sich einzig darauf ausrichtet, was am Schluss geschieht. Bei Heiligen ist dies in der Regel der Märtyrertod sowie die göttliche Errettung ihrer Seele. Bei Faustus ist es umgekehrt die Höllenfahrt: Nicht der Herrgott, sondern der Teufel holt sich seine Seele. Auf diesen Schreckensschluss läuft sein gesamtes Leben zu. Die Historia, so lässt sich also sagen, ist eine invertierte Heiligenlegende, d. h. eine Umkehrung