»Onkel, ich bitte dich! Mir ist jetzt nicht nach philosophischen Betrachtungen. Ich mache mir Sorgen.«
»Ich auch. Um deinen Verstand. Er scheint ausgeschaltet.«
»Wie kommst du auf die Idee? Heather hat seit einer Woche das Haus nicht verlassen. Ich sage dir, sie ist eine Gefangene!«
Lord Cyrus lachte herzlich. Als er aber bemerkte, dass sein Neffe ernstlich böse wurde, bemühte er sich um Besonnenheit und fragte: »Wie kommst du zu dieser Einschätzung?«
»Sie geht sonst jeden Tag nach draußen. Ich war sicher, sie am Tag nach meinem Besuch auf Hanley-Hall wieder zu treffen. Aber sie ist wie vom Erdboden verschwunden. Da stimmt etwas nicht!«
Der Onkel nickte langsam. »Das erhärtet meine These von dem reichen Bräutigam. Ihre Verwandten haben ihr offenbar verboten, dich wiederzusehen. Und um sicher zu gehen, dass sie sich an dieses Verbot hält, beschäftigen sie das Kind im Haus. Ja, das erscheint mir logisch, berücksichtigt man die niederträchtige und charakterlose Art dieser Leute.«
»Und was soll ich jetzt tun? Einfach tatenlos zusehen, wie Heather leidet?«
»Das kannst du nur annehmen. Ich wage zu behaupten, dass du von dir auf andere schließt, mein Junge.«
»Sie erwidert meine Gefühle. Ich habe es sofort gespürt, als wir uns das erste Mal begegnet sind. Und bei unserem Wiedersehen war es dann ganz klar.«
»Den Hanleys offenbar auch. Jetzt kann dir nur Geduld weiterhelfen, Timothy. Wenn das Mädchen dich auch gern hat, wird sie einen Weg finden, wieder ein Treffen zu arrangieren. Aber es braucht Zeit und Behutsamkeit. Diese Aasgeier werden ihre Beute nicht kampflos aus den Klauen lassen.«
Der junge Anwalt seufzte. »Du hast eine besondere Art, einem Mut zu machen, Onkel. Ich werde heute wieder ausreiten. Womöglich kann ich wenigstens einen Blick auf Heather erhaschen.«
Lord Cyrus konnte nur den Kopf schütteln. Er war ein eingefleischter Junggeselle und hielt alles, was mit Liebe und Romantik zusammenhing, für überflüssige Hirngespinste. Doch wenn sein Neffe eine Herzensneigung verspürte, wollte er ihm nicht im Weg stehen. Jeder Mensch musste nun einmal seine eigenen Erfahrungen machen …
Wenig später verließ Timothy hoch zu Ross Ivy Grove. Es war ein trüber, regnerischer Tag, der Wind blies spürbar landwärts und brachte den salzigen Geschmack des Meeres mit sich. Der junge Anwalt hatte nicht viel Hoffnung, Heather zu treffen. Bei diesem Wetter war kaum jemand unterwegs. Doch tief im Herzen spürte er die Gewissheit, dass sie sich ebenso sehr nach ihm sehnte wie er nach ihr. Und er sollte sich nicht irren …
Heather hielt sich in der Küche von Hanley-Hall auf, denn dies war der Platz, an dem sie sich am wohlsten fühlte. Agatha war damit beschäftigt, das Abendessen vorzubereiten, sie hatte das junge Mädchen nach nebenan geschickt weil Heather ihr keine Hilfe war. Sie war mit den Gedanken stets woanders.
»Sie hat den Kopf in den Wolken«, wie die Köchin das ausdrückte. Polly hatte sich kurz zu ihr gesellt und eine Tasse Tee mit Heather getrunken. Nun musste sie wieder ihren Pflichten nachgehen. Heather hörte Agatha nebenan hantieren und dabei fast pausenlos mit Laura schimpfen, die ihr an diesem Tag einfach nichts recht machen konnte. Heather fühlte sich schrecklich einsam. Nicht einmal die Gesellschaft der Menschen, mit denen sie gut auskam, konnte daran etwas ändern. Seit sie Timothy Humbert kennen gelernt hatte, war ihr Herz voller Sehnsucht.
Das junge Mädchen war zum ersten Mal ernsthaft verliebt und es gab niemandem, mit dem Heather reden, dem sie ihr Herz ausschütten konnte. Prudence und Reginald am allerwenigsten. Die durften nicht einmal ahnen, was in ihr vor sich ging, sonst würde sie das Haus nie wieder verlassen dürfen.
Nun sehnte sich Heather mehr denn je nach Hause. Wie schön wäre es, mit ihrer Mutter über diese neu erwachten Gefühle zu sprechen! Oder mit Miss Pringle, der besten Freundin, die sie jemals gehabt hatte.
Doch das Schicksal hatte es anders gemeint. Es hatte ihr die Eltern genommen und auch Miss Pringle, ebenso wie ihr Daheim. Nun war sie auf die Barmherzigkeit entfernter Verwandter angewiesen und fühlte sich schrecklich einsam und allein.
Mit einem Seufzer erhob Heather sich und trat hinter das Fenster in Augenhöhe. Sie konnte einen Teil des Parks überblicken und starrte trübsinnig in den Landregen, der gerade niederging. Im nächsten Augenblick aber war es, als ginge ein Stromstoß durch ihren schlanken Körper, der sich anspannte. Sie hob sich auf die Zehenspitzen, um besser sehen zu können. Ein ganzes Stück weit entfernt, aber doch deutlich zu erkennen, passierte ein Reiter Hanley-Hall: Timothy!
Am liebsten wäre Heather nach draußen gerannt, um ihn zu begrüßen. Ihr Herz pochte wie wild, ihre Augen strahlten und ihre Wangen brannten. Wie gern wäre sie nun bei ihm! Und er schien ebenso zu empfinden, sonst hätte er gewiss nicht diesen Weg gewählt. Sie klopfte heftig gegen die Scheibe, aber der junge Mann war bereits zu weit weg. Und im nächsten Moment war er ihren Blicken entschwunden. Da fühlte Heather sich, als sei sie in ein dunkles Loch gefallen. Ganz mutlos und noch viel einsamer als gerade eben …
»Miss Heather, können Sie etwas Eingemachtes holen? Ich fürchte, ich bin so ungeschickt und werde wieder ein Glas zerbrechen. Und Agatha schimpft schon den ganzen Tag mit mir.« Laura schaute das junge Mädchen bekümmert an. »Tun Sie mir den Gefallen, Miss? Bitte!«
»Natürlich. Was soll es denn sein?« Heather nahm Laura den Korb ab und lächelte ihr ein wenig zu. Daraufhin lächelte sie erleichtert zurück und erklärte: »Stachelbeeren.«
»Die werde ich schon finden. Bin gleich wieder da.« Heather verließ die Küche und betrat ein schmales Treppenhaus, das ins zweite Untergeschoss von Hanley-Hall führte. Hier waren die vielen Vorratsräume untergebracht, von denen die Meisten leer standen. Prudence hielt nichts von allzu vielen Vorräten.
Heather betrat den Keller mit dem Eingemachten. Es gab hier kein elektrisches Licht, nur eine Petroleumlampe, die man mit einem Streichholz anzünden musste. Sie stand direkt neben der Tür. Heather stellte den Korb ab und riss ein Streichholz an. Gleich darauf warf die altertümliche Lampe einen gelblichen Schein über die langen Regalböden voller Einmachgläser.
Das junge Mädchen nahm den Korb in die Rechte, die Lampe in die Linke und leuchtete die erste Reihe ab. Sie war so vertieft in ihre Suche, dass sie nicht bemerkte, wie die Tür sich langsam schloss. Erst als sie mit einem vernehmlichen Geräusch zufiel, blickte Heather auf.
»Hallo, ist da jemand?«, rief sie, erhielt aber keine Antwort. Im nächsten Moment wehte sie etwas Kaltes an. Sie zuckte zurück, dabei entglitt ihr die Lampe und fiel zu Boden, wo sie erlosch. Heather stand wie erstarrt in der plötzlichen Dunkelheit. Sie wagte nicht, sich zu bewegen, sie wagte kaum zu atmen. Es war ganz still, kein Geräusch drang an ihr Ohr.
Alles ist gut, sagte sie sich selbst. Ich muss nur zurück zur Tür gehen, dann werde ich gleich wieder etwas sehen. Ihr Herz pochte hart und schnell gegen die Rippen und ihre Hände wurden feucht vor Furcht, während sie sich langsam nach vorne, Richtung Tür tastete.
Nur noch ein paar Schritte, dann habe ich es geschafft.
Urplötzlich prallte Heather gegen ein Hindernis. Sie erfasste nicht gleich, was es war, meinte, sie sei gegen ein Regal gestoßen. Erst als die Hände sie packten, begriff sie ihren Fehler. Sie waren eisig, ihr Griff war unbarmherzig. Und im nächsten Moment sah Heather etwas, das sie vor Angst fast den Verstand verlieren ließ: Augen, die in der Dunkelheit rötlich glosten, als ob in ihnen das Feuer der Hölle brennen würde …
*
Timothy hielt sich noch in der Nähe von Hanley-Hall auf, als der Einspänner von Dr. Wallace, dem Landarzt, auftauchte. Der junge Anwalt konnte beobachten, wie der Mediziner auf Hanley-Hall zuhielt und gleich darauf im Haus verschwand, als ob er erwartet worden wäre. Ein ungutes Gefühl beschlich Timothy. Spontan folgte