»Und, wie ist sie?«, wollte sie rundliche, mütterlich wirkende Köchin von Polly wissen. Alle im Haus waren neugierig auf »das Mädchen aus London«, das ihnen so unerwartet ins Haus geschneit war. Polly wirkte unschlüssig.
»Sie ist sehr nett, aufrichtig und fast ein bisschen naiv. Ich kann mir gar nicht vorstellen, dass sie tatsächlich mit unserer Herrschaft verwandt sein soll.«
»Sehr weitläufig«, merkte die Köchin an. »Ich hoffe, das Mädchen wird sich bei uns eingewöhnen. Es ist doch eine große Umstellung, wenn man in einem schönen Stadthaus in London gelebt hat, mit Personal und allem, und muss sich nun hier einfügen.«
»Einfach wird das sicher nicht«, war auch Polly überzeugt.
Laura, das Küchenmädchen, hatte den Tisch fertig gedeckt und nun setzten sich alle, um zu essen.
»Was denken Sie, wird sie uns bei der Arbeit helfen?«, fragte Laura die Köchin, die sie dafür im ersten Impuls rügen wollte. Dann aber wiegte sie den Kopf leicht und gestand Laura zu: »Du hast manchmal nicht nur dumme Ideen im Kopf. So wie ich die Missis einschätze, könnte das durchaus der Fall sein …«
*
Als Heather das Frühstückszimmer betrat, begrüßte Reginald sie freundlich, während seine Frau ihr nur einen vorwurfsvollen Blick zuwarf und feststellte: »Du bist spät dran. Da dies heute dein erster Tag hier ist, will ich noch einmal darüber hinwegsehen, aber …«
»Pru, Liebes, sei nicht so streng. Unsere kleine Heather muss sich doch erst einmal bei uns einleben«, mischte ihr Mann sich beschwichtigend ein. Er tätschelte Heather die Wange und forderte sie auf, sich neben ihn zu setzen. Sie musste an das denken, was Polly ihr erzählt hatte, und hielt ein wenig Abstand, was ihr Verwandter allerdings nicht zu bemerken schien.
»Nun, gut geschlafen?«, fragte er leutselig. Und nachdem sie zustimmend genickt hatte, entschied er: »Dann sollten wir gleich nach dem Frühstück unseren Rundgang beginnen. Später werde ich keine Zeit mehr dafür haben.«
»Ihr solltet den Rundgang nicht zu sehr ausdehnen«, riet Prudence ihm verkniffen. »Ich muss Heather auch noch in ihre Pflichten einweisen.«
»Natürlich, es geht ganz schnell«, versicherte er mit einem verbindlichen Lächeln, das seine Augen aber nicht erreichte. Die waren kalt und abschätzig auf seine bessere Hälfte gerichtet …
Das Frühstück bestand aus Haferbrei und dünnem Tee. Heather hatte Mühe, etwas davon herunter zu würgen. Sie gab sich Mühe, sich nichts anmerken zu lassen, doch sie sehnte sich mit jeder Faser ihres Herzens zu dem Haus in Mayfair zurück, wo sie daheim war. In Hanley-Hall hatte ihr bislang nichts wirklich zugesagt.
Nach dem Frühstück bemühte Reginald sich, Heather ein wenig aufzuheitern. Er führte sie durch das ganze Haus, zeigte ihr die Ställe mit den Pferden und dem Nutzvieh und schloss die Tour mit einer Kutschfahrt über das Land ab, das zum Besitz gehörte. Danach war Heather beeindruckt.
»Ich wusste gar nicht, dass es hier auch eine Landwirtschaft gibt«, sagte sie interessiert. »Bist du denn Landwirt, Onkel Reginald?«
Er lachte. »Ja, da staunst du, nicht wahr? Ich bin nicht nur der Gutsherr und ein Geschäftsmann, sondern kenne mich auch in den praktischen Dingen aus. Kein Viehhändler und kein Torfstecher haut mich übers Ohr.« Seine Augen hinter der Brille funkelten unangenehm. »Wer das versucht, ist schlecht beraten!«
Heather nickte nur und betrat neben ihm die Halle. Prudence hatte bereits auf sie gewartet. Als sie ihrem Mann einen spitzen Blick zuwarf, entschuldigte dieser sich knapp bei Heather und verschwand in seinem Arbeitszimmer.
»Komm, Kind, ich möchte mit dir über deine Pflichten in diesem Haushalt reden«, erklärte Prudence dann streng. »Du wirst einsehen, dass jeder hier seinen Beitrag leisten muss, damit alles funktionieren kann. Es käme uns nie in den Sinn, die Hände in den Schoß zu legen und uns bedienen zu lassen.«
»Das verstehe ich, Tante Pru«, versicherte das junge Mädchen zugänglich. »Wenn ich etwas helfen kann, tue ich es gern.«
»Also gut, dann gehen wir.« Sie führte Heather in die Küche und machte sie mit Agatha bekannt. Die mütterliche Köchin war dem Mädchen auf Anhieb sympathisch. Dass sie ihr allerdings zur Hand gehen sollte, befremdete Heather doch ein wenig.
»Ich habe aber keine Erfahrung mit solchen Arbeiten«, gab sie zu bedenken. »Vielleicht könnte ich eher die Pflichten einer Gesellschafterin übernehmen. Du weißt ja, ich spiele Klavier und singe. Und ich verfüge über eine gute Bildung, sowie …«
»Wofür hältst du das hier? Den Buckingham-Palast?«, unterbrach ihre Verwandte sie harsch. »Hör auf das, was Agatha dir sagt. Mit der Zeit wirst du schon begreifen, worauf es ankommt.«
Damit verließ Prudence die Küche und kümmerte sich nicht weiter um Heather, die ein wenig ratlos herumstand.
»Kommen Sie einmal zu mir, Miss Heather«, bat Agatha sie freundlich. »Lassen Sie sich anschauen. Sie sind wirklich außergewöhnlich hübsch. Und diese zarten Finger, die taugen kaum dazu, Gemüse zu schneiden. Was machen wir denn da …« Die Köchin dachte kurz nach und lächelte dann. »Wenn Sie mögen, bringe ich Ihnen die Zuckerbäckerei bei. Feine Kuchen, Pasteten und Petit Fours sind nämlich meine Spezialität. Was denken Sie?«
Heather wirkte unschlüssig. »Das wäre schön, aber soweit ich Tante Pru verstanden habe, soll ich mich nützlich machen.«
»Das werden Sie ja, Miss Heather. Heute Mittag gibt es einen Nachtisch. Den richten wir zusammen an, einverstanden?«
Das junge Mädchen hatte nichts dagegen und ging gleich mit Feuereifer zur Sache. Die Köchin war eine liebenswerte Person, die es ihr leicht machte. Laura, das Küchenmädchen, war ebenso nett wie Polly. So unsympathisch die Hanleys Heather auf den ersten Blick gewesen waren, so gut verstand sie sich auf Anhieb mit dem Personal des Herrenhauses. Und sie überraschte Prudence mit dem Nachtisch, an dem sie mitgewirkt hatte.
Reginald schien davon allerdings nicht begeistert zu sein. »Pru, ich billige nicht, was du tust«, stellte er kategorisch klar. »Heather ist kein Dienstmädchen. Es ist unpassend, wenn sie in der Küche arbeitet. Sie soll sich eine standesgemäße Beschäftigung suchen, die ihr Freude bereitet.« Er wandte sich an das junge Mädchen und fragte freundlich: »Was würde dich denn reizen, mein liebes Kind? Leider gibt es in diesem Haus kein Klavier, doch gewiss hast du noch andere Interessen, nicht wahr? Nur frei heraus, was möchtest du gerne tun?«
»Es macht mir Freude, Agatha zu helfen. Und ich finde, es kann nicht schaden, die Grundbegriffe des Kochens zu erlernen.«
Reginald verzog den Mund. »Wenn es dir tatsächlich Freude bereitet, werde ich es dir nicht verbieten. Doch du solltest bedenken, dass du eines Tages eine passende Partie machen und heiraten wirst. Und unter einer passenden Partie verstehe ich weder einen Butler, noch einen Kutscher.«
»Darüber müssen wir doch jetzt noch nicht sprechen«, hielt seine Frau ihm entgegen. »Ich habe es nur gut gemeint mit Heather. Auf dem Land können praktische Kenntnisse nicht schaden. Aber wenn du dagegen bist, Reginald, überlasse ich es gern dir, für Heather eine passende Beschäftigung zu finden.«
»Ich bin ganz zufrieden, so wie es ist«, versicherte das Mädchen rasch, denn Heather wollte nicht unbedingt mehr Zeit mit dem Hausherrn verbringen. Dieser gab nach, und damit war das Thema erledigt.
Nach dem Essen verschwand Heather gleich wieder in der Küche, doch Agatha bremste ihren Fleiß und schlug ihr vor, erst bei den Vorbereitungen fürs Diner zu helfen. »Sie können in der Zwischenzeit einen Spaziergang machen, Miss Heather. Heute ist schönes Wetter. Bleiben Sie nur auf den Wegen, dann verlaufen Sie sich auch nicht.«
Heather griff den Vorschlag der Köchin gerne auf. Wenig später verließ sie Hanley-Hall, nicht ahnend, dass ihr gleich mehrere Augenpaare