Butler Simon ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. »Das wird nichts nützen, Sir, auf diese Weise erreichen Sie nichts.«
»Ich verlange zu erfahren, wo sich Miss Heather aufhält und ob es ihr gut geht!«, beharrte der junge Anwalt.
»Warten Sie bitte einen Moment.« Nun schloss der Butler doch die Tür und es dauerte weitaus länger als nur einen Moment, bis diese wieder geöffnet wurde. Reginald Hanley maß den Besucher abweisend und so klang auch seine Stimme, als er sich beschwerte: »Ihr Benehmen ist impertinent, Sir. Miss Heather möchte Sie nicht sehen, sie hat kein Interesse an einem weiteren Treffen mit Ihnen. Ich kann Ihnen nur raten, dies hinzunehmen. Weitere Drohungen werden die Einschaltung der Polizei nach sich ziehen. Ich hoffe, wir haben uns verstanden.«
»Mr. Hanley, ich …« Timothy verstummte, denn der Hausherr hatte ihm das schwere Portal vor der Nase zugeknallt. Ihm blieb nichts weiter übrig, als nachzugeben und zu akzeptieren, dass er auf diese Weise nichts erreichen würde.
Timothy zog sich also zurück, allerdings nur ein Stück weit. Am Weg nach Callington wartete er darauf, dass Dr. Wallace auftauchte. Er kannte den alten Arzt, der seinen Onkel wegen gelegentlicher Herzbeschwerden behandelte. Vielleicht hatte er ja Glück und konnte von ihm etwas erfahren …
Es dauerte noch eine Weile, bis der Landarzt auftauchte. Er machte ein überraschtes Gesicht, als er Timothy gewahrte, hielt aber gleich an und fragte: »Geht es Ihrem Onkel schlecht? Soll ich nach ihm sehen? Er hat mich bereits seit einer ganzen Weile nicht mehr konsultiert.«
»Es geht Onkel Cyrus gut, danke der Nachfrage. Bitte entschuldigen Sie, Doktor, wenn ich Sie hier aufhalte. Aber ich habe eine Bitte, die nur Sie mir erfüllen können.«
»Nun, junger Mann, dann frisch von der Leber weg«, forderte der Landarzt und genehmigte sich eine Prise Schnupftabak. »Wo drückt denn der Schuh?«
»Ich mache mir große Sorgen um Miss Somersby. Sie lebt erst seit kurzem in Hanley-Hall, ich habe ihre Bekanntschaft eher durch Zufall gemacht und musste dabei feststellen, dass sie hier nicht sehr glücklich ist. Nun sehe ich sie gar nicht mehr, man lässt mich nicht zu ihr und ich erfahre auch nicht, wie es ihr geht. Als ich Sie nach Hanley-Hall fahren sah …«
»Verstehe schon, eine Romanze also.« Der Doktor schmunzelte gemütlich. »Ja, die kleine Lady ist von starkem Liebreiz, das ist auch mir altem Knochen nicht entgangen. Aber ich kann Sie beruhigen, mein Junge, sie schwebt in keiner Gefahr, falls Sie das glauben. Sie hatte einen leichten Unfall, ist im Vorratskeller gestürzt und hat sich die Hand verstaucht, nichts Dramatisches.«
»Es geht ihr also gut? Sie haben mit ihr gesprochen?«
»Habe ich. Nun, die Hanleys sind keine sonderlich sympathischen Menschen. Dieses Mädchen muss offenbar für Kost und Logis bei ihnen arbeiten. Sie macht den Eindruck einer Lady, wird aber gehalten wie ein Dienstmädchen. Das ist sicher nicht recht, allerdings die Sache dieser Leute. Zudem wird sie in wenigen Wochen einundzwanzig und damit großjährig. Ich denke mir, falls es ihr bei den Verwandten nicht gefällt, wird sie Hanley-Hall dann doch gewiss verlassen können …«
»Gewiss.« Timothy war mit den Gedanken plötzlich ganz weit weg. Eine schreckliche Vorstellung plagte ihn: Was, wenn diese Leute Heather vorher noch gegen ihren Willen mit einem reichen Bräutigam verheirateten, wie sein Onkel vermutete? Dann war sie für sein liebendes Herz für immer verloren. Nein, das durfte nicht geschehen! Er musste alles unternehmen, um dies zu verhindern. Doch wie?
»Dann mache ich mich mal wieder auf den Weg«, merkte Dr. Wallace nun an und holte Timothy so auf dem Boden der Tatsachen zurück. Er bedankte sich und schaute dem Landarzt bedrückt hinterher. Er wusste nun zwar, dass Heather nichts Gravierendes fehlte, doch die Sehnsucht nach dem zauberhaften Mädchen wollte nicht weichen, ebenso wie die Sorge um ihr Wohlergehen.
Als Timothy eine Weile später nach Ivy Grove zurückkehrte, wartete dort eine Überraschung auf ihn. Sein Onkel überreichte ihm einen Brief, der kurz vorher per Boten gebracht worden war.
»Er kommt aus Hanley-Hall, von deiner Liebsten«, spöttelte Lord Cyrus und schaute zu, wie sein Neffe hastig den Umschlag öffnete. Er überflog die wenigen Zeilen, erbleichte und ließ den Brief dann achtlos zu Boden fallen. Sein Onkel wunderte sich sehr über diese Reaktion.
»Timothy, mein Junge, was hast du?«, fragte er vorsichtig.
Der junge Mann schwieg eine Weile, er brauchte offenbar Zeit, um sich zu sammeln und seine Gedanken zu ordnen. Dann erklärte er entschlossen: »Etwas geht vor auf Hanley-Hall und ich werde herausfinden, was es ist.«
»Aber, wieso …«
»Ich habe mit Dr. Wallace gesprochen, er war dort, als ich ausgeritten bin. Er erzählte mir, dass Heather sich bei der Hausarbeit die Hand verletzt hat, es ihr aber sonst gut geht. Damit hat er mich halbwegs beruhigt. Ich hatte nur noch immer die Sorge, sie könnte mit einem anderen verheiratet werden, solange die Hanleys sozusagen noch Gewalt über sie haben. Der Doktor hat mir nämlich gesagt, dass Heather bald großjährig wird. Dieser Brief hier hat jedoch alles geändert. Er stammt nicht von ihr, auch wenn sie ihn angeblich unterschrieben hat. Sie erklärt darin, dass sie mich nicht wiedersehen möchte und keinerlei weitere Beziehungen zwischen uns wünscht. Beinahe das Gleiche hat der Butler mir gesagt und auch Reginald Hanley. Sie halten Heather unter Verschluss, man zwingt sie gegen ihren Willen, solange sie noch unmündig ist!«
»Das ist ein vager Verdacht. Du hast keine Beweise.«
»Ja, mag sein, dass ich keine objektiven Beweise in Händen halte. Doch ich weiß, was ich weiß! Mein Herz kennt dieses Mädchen. Sie empfindet ebenso wie ich. Und man hält sie nun gewaltsam von mir fern. Das kann nur eines bedeuten, nämlich dass diese Hanleys Übles im Schilde führen.«
Lord Cyrus machte ein nachdenkliches Gesicht. Auch wenn ihm die leidenschaftlichen Regungen seines Neffen fremd waren, erschien ihm die ganze Geschichte doch ein wenig suspekt.
»Leider gibt es nun aber wenig, was du tun kannst«, stellte er schließlich bedächtig fest. »Ich würde dir raten, weiterhin auf eine Gelegenheit zu warten, Heather zu sprechen. Natürlich hat es wenig Sinn, es durch die Vordertür zu versuchen. Aber wenn du wachsam bleibst, findet sich womöglich ein Schlupfloch …«
Timothy seufzte leise, seine Miene spiegelte deutlich das Gefühl der Hilflosigkeit, das ihn wütend machte. »Ich fürchte, du hast Recht, Onkel. Aber ich kann nicht behaupten, dass mir das gefällt. Heather einfach ihrem Schicksal zu überlassen, erscheint mir feige und falsch.«
»Du überlässt sie ja nicht ihrem Schicksal. Du musst nur deine Taktik ein wenig anpassen. Oder wie das Sprichwort sagt: Wer mit dem Teufel Brei essen will, braucht einen langen Löffel …«
*
Nach dem unheimlichen Erlebnis im Vorratskeller traute Heather sich nicht mehr ins Untergeschoss von Hanley-Hall. Dr. Wallace hatte ihre Hand verbunden und ihr geraten, sich eine ganze Weile zu schonen. Die Schmerzen ließen schon nach ein paar Tagen nach, die Angst war nun aber Heathers steter Begleiter.
Das Mädchen hatte im Stillen gehofft, dass Timothy einen weiteren Besuch bei ihr machen würde. Doch er kam nicht, ließ sich auch in der Umgebung nicht mehr blicken. Fast musste sie glauben, dass er sie vergessen hatte. Oder war er vielleicht nach London zurückgekehrt, um sein Leben ohne sie weiterzuführen? Eine erschreckende Vorstellung!
Heather fühlte sich in diesen Tagen sehr einsam. Ihre Nächte waren von quälenden Albträumen erfüllt, und wenn sie am Morgen blass und schmal ins Frühstückszimmer kam, musste sie sich von Prudence noch Vorwürfe anhören. Reginald schien das Interesse an Heather gänzlich verloren zu haben, was ihr nur recht sein konnte.