Über Bord
Vorbemerkung des Verfassers.
Dem Bildhauer
Gustav Vigeland gewidmet
Ich war durch verschiedene Umstände veranlaßt, das, was organisch zusammengehört, in einzelne Stücke zu zerreißen und die drei Teile des »Homo sapiens« einzeln herauszugeben. So kam es, daß der erste Teil zuletzt erscheint, aber es ist selbstverständlich, daß Menschen, die nicht die ehrliche Absicht haben, mich von vornherein mißzuverstehen, die Romanserie »Homo sapiens« jetzt im Zusammenhange noch einmal lesen und nicht einzelne Teile, sondern das Ganze beurteilen werden.
I.
Falk sprang wütend auf.
Was war es denn?
Er wollte nicht in der Arbeit gestört werden, jetzt grade, wo er sich endlich entschlossen hatte, wieder zu arbeiten.
Gott sei Dank! Kein Freund. Nur ein Postbote.
Er wollte die Karte wegwerfen. Es hat Zeit. Da plötzlich: Mikita!
Es wurde ihm ganz heiß.
Mikita, mein teurer Mikita.
Er überflog die Karte: »Sei morgen Nachmittags zu Hause. Ich bin von Paris zurück.«
So viel hat er wohl schon lange nicht geschrieben, seit er sich vor vielen Jahren den berühmten Aufsatz geleistet hatte.
Falk lachte herzlich auf.
Dieser wunderbare Aufsatz! Daß er damals nicht ausgewiesen wurde ...
Neujahrseindrücke, abgefaßt in Form einer Neujahrsgratulation in den überschwenglichsten Phrasen; jeder Satz zwei Seiten lang.
Und dann. Nein, war das herrlich. Der alte Fränkel ... Wie er schimpfte! Nun, die Geschichte war brenzlich ...
Falk dachte nach, wie er Mikita überredet hatte, eine Apologie zu schreiben, in der ein wunderbarer Kalauer als Grunddominante durchging: Was einem Schiller erlaubt ist, sollte einem Schüler nicht erlaubt sein?
Und dann, am nächsten Tage. Sie schrieben die Apologie die ganze Nacht hindurch, legten sich am frühen Morgen schlafen und schickten zum Fränkel ein Entschuldigungsschreiben.
Falk konnte es noch nicht verstehen, wie so etwas durchgehen konnte.
Diese famose Entschuldigung: Es sei selbstverständlich, daß man in die Schule nicht kommen könne, wenn man die ganze Nacht hindurch an der Apologie gearbeitet habe.
Zwanzig Seiten lang ...
Nun mußte er aber arbeiten.
Er setzte sich wieder hin, aber die Arbeitsstimmung war vorbei. Er suchte sich zu zwingen, fischte ordentlich nach den Gedanken, kaute an dem Federhalter, schrieb auch ein paar Zeilen, die vollkommen banal waren: nein, es ging nicht.
Ein andres Mal hätte er sicherlich eine jener bekannten Grabesstimmungen bekommen, die er im Alkohol ersäufen mußte. Diesmal war er froh.
Er lehnte sich in den Stuhl zurück.
Deutlich sah er die furchtbare Mansarde, in der sie beide das letzte Jahr im Gymnasium gewohnt hatten. In der einen Wand drei Fenster, die nie geöffnet werden durften, weil sonst die Gefahr vorlag, daß die Scheiben rausfliegen könnten. Alle Wände mit Schimmelpilzen über und über bedeckt. Und kalt, daß sich Gott erbarme.
Wie sie einmal am frühen Morgen erwachten und sich erstaunt in dem Zimmer umsahen:
– Merkwürdig frische Luft hier, sagte Mikita.
– Ja, merkwürdig.
Und es war ein Staunen ohne Grenzen über dies seltsame Phänomen.
Ja, nachher wurde es klar. Es war eine Kälte, daß die Vögel erstarrt aus der Luft fielen.
Falk stand auf. Ja, das waren doch seine schönsten Erinnerungen.
Und der lange Kerl, der ihnen immer alle Bücher ausführte, wie hieß er doch nur?
Er konnte sich lange nicht auf den Namen besinnen. Ja endlich: Longinus.
Sonderbarer Mensch.
Falk