»Oh, Mr. Logg Sar ist verschwunden? Da wäre es doch wohl das einfachste, wenn man sich an die Polizei wendete. Freilich müßte man glaubhaft machen, daß der begründete Verdacht eines Verbrechens vorliegt, denn sonst … man reist viel in den Staaten, und eine achttägige Abwesenheit eines jungen unabhängigen Mannes wäre noch kein Grund, den polizeilichen Apparat in Bewegung zu setzen.«
Dr. Glossin hatte seine Züge in der Gewalt. Jane, die ihn gespannt beobachtete, merkte keine Veränderung an ihnen, während er ruhig fortfuhr: »Ich will mich selbst mit der Polizei in Verbindung setzen, aber … aber vielleicht hat Mr. Logg Sar triftige Gründe …«
»Herr Doktor! Was soll das heißen?«
Jane rief es mit fliegender Hast. Sie schaute den Besucher mit großen, klaren Augen an. Doch nur auf Sekunden. Vor dem magnetischen Fluidum, welches aus den funkelnden Augen des Doktors auf sie überströmte, senkten sich ihre Augenlider schwer und furchtsam.
»Ich bin nur gekommen, um eine Kleinigkeit, die ich bei meinem letzten Hiersein vergaß, aus dem Laboratorium zu holen. Ich muß gleich wieder abreisen.«
Im Umdrehen suchte er nochmals den Blick Janes zu fassen, den diese beharrlich zu Boden gerichtet hielt. Einen Augenblick nur dauerte der stumme Kampf. Dann schaute das Mädchen besiegt zu dem Manne empor. Ihre Blicke versenkten sich ineinander.
»Eine kleine halbe Stunde, dann ist mein Geschäft erledigt.«
Der Doktor schritt dem Hauseingang zu.
»Bring mich ins Haus, liebe Jane. Die Sonne ist hinter dem Dach verschwunden. Mir wird kühl.«
Während Jane die herabgesunkene Decke um sie schlug, strich ihr die Mutter liebkosend über das bleiche Gesicht.
»Mein Liebling, es wird noch alles gut werden.«
»Möchtest du recht haben, liebe Mutter.«
Ruhig, fast eintönig sprach Jane die Worte. Im Hause bettete sie die Kranke auf einen Diwan und wandte sich zum Flur. Leise schloß sie die Tür und stand wie mit sich selbst kämpfend einen Augenblick still. Dann schritt sie dem Laboratorium zu.
Dr. Glossin kam ihr entgegen und führte sie zu einem bequemen Stuhl. Der suggestive Befehl war auf die Minute genau ausgeführt. Noch einmal versuchte sie es, sich zu erheben, aber es gelang ihr nicht. Eine unüberwindliche Kraft fesselte sie an ihren Sitz. Ihr Mund öffnete sich, als wolle sie rufen. Dr. Glossin streckte die Hände über Janes Haupt aus, und kein Ton kam von ihren Lippen. Ohne Kraft und Willen ließ sie ihren Kopf auf die Rückenlehne sinken. Sie war in jenem rätselhaften Zustand, in dem das körperliche Auge geschlossen ist, während die Seele Dinge wahrnimmt, die räumlich oder zeitlich in weiter Ferne liegen. Dr. Glossin zog seine Hand zurück und fragte: »Wo hat Logg Sar die Aufzeichnungen über seine Erfindung gelassen?«
Die Züge Janes strafften sich. Sie schien etwas zu suchen und schwer oder unvollkommen zu finden. Ihre Lippen öffneten sich und formten Worte einer fremden Sprache.
»Om mani padme hum.«
Eintönig wiederholte sie die vier Worte. Dr. Glossin hörte sie und verstand den Sinn nicht. Mit größter Konzentration stellte er die Frage noch einmal, gab er Befehl, das Versteck der Aufzeichnungen zu nennen. Die Antwort bestand immer wieder in diesen vier Worten, die ganz mechanisch, fast maschinenmäßig wiederholt wurden, wie wenn etwa ein Phonograph den gleichen Text ein dutzendmal herunterspielt.
Der Doktor ließ die Frage fallen und stellte eine andere.
»Wo ist Logg Sar jetzt? Können Sie ihn sehen? Können Sie hören, was er spricht?«
Abgebrochen und stoßweise kamen die Worte von Janes Lippen: »Ich sehe … Wolken … ein Schiff … ein Flugschiff … Logg Sar! Er trägt ein dunkles Kleid. Zwei Männer sind bei ihm … Das Schiff landet … Viel Heidekraut. Die Männer verlassen das Schiff … Das Schiff verschwindet. Logg Sar geht über die Heide … Es wird neblig. Ich sehe nichts mehr.«
Atemlos hatte Dr. Glossin Wort für Wort aufgefangen.
»In welchem Lande sind sie? Wo liegt das Land?«
»Ein Land im Norden … dunkle Tannen und Heidekraut … ein Haus an einem Fluß. Die Nebel steigen … Ich sehe nichts mehr …«
Dr. Glossin zwang sich zur Ruhe. Er wußte aus früheren Erfahrungen, daß es vergeblich war, weiterzufragen, wenn das Bild sich verschleierte. So setzte er die Nachforschung in anderer Richtung fort. Viel Hoffnung auf einen Erfolg hatte er nicht. Wenn die Vision schon bei Vorgängen abbrach, die, wenn auch weit entfernt, in der Gegenwart stattfanden, war wenig Aussicht, zeitlich zurückliegende Dinge zu erblicken. Aber er beschloß, den Versuch zu machen.
»Gehen Sie in Logg Sars Wohnung!«
»Ich gehe … die Johnson Street, die Washington Street … ich bin in dem Hause … ich trete in das Zimmer …«
»Blicken Sie sich genau um! Sind alle Gegenstände vorhanden? Oder fehlt etwas? Wurde in der letzten Zeit etwas aus dem Zimmer genommen? Blicken Sie rückwärts.«
Jane hob die Hände, als ob sie sich in einem dunklen Raum vorwärts tastete.
»Ich sehe … Logg Sar ist fortgegangen. Eine Person kommt. Ich erkenne sie. Es ist Dr. Glossin. Er sucht und findet nichts … Er geht wieder fort. Zwei andere Männer kommen. Der eine … ein Riese, blond, mit blauen Augen. Der andere dunkel. Ein Neger? … Nein, ein dunkler Mann. Sie suchen. Sie nehmen … Om mani padme hum … Om mani padme hum.«
Der Doktor ballte erregt die Hände.
»Om mani padme hum? … Schon wieder die sonderbaren Worte. Was bedeuten sie? Geben sie den Schlüssel? Wie finde ich die Lösung? … Verdammt daß die Zeit so knapp ist! In drei Stunden muß der Diktator seinen Bericht haben.«
»Om mani padme hum«, kam es automatisch von Janes Lippen.
»Was nehmen die zwei? Strengen Sie sich an! Versuchen Sie, deutlich zu sehen. Was nehmen die beiden Männer?«
»Papierstreifen … ich sehe eine kleine Handmühle … das Bild wird trübe. Die Nebel steigen.«
»Eine Mühle?«
Dr. Glossin zerbrach sich den Kopf. Eine Mühle? Was konnte Logg Sar für eine Mühle haben? Bei der Durchsuchung seines Zimmers hatte Dr. Glossin allerlei asiatische Erzeugnisse gesehen … vielleicht eine buddhistische Gebetmühle? Gab etwa der rätselhafte Spruch die Lösung nach dieser Richtung?
Dr. Glossin wußte, daß er es heute nicht mehr erfahren würde. Er legte die Hand aufs neue auf Janes Stirn. Im Augenblick vollzog sich eine Veränderung in ihrem Aussehen. Ihre Züge entspannten sich, und wie eine tief Schlafende saß sie in dem Stuhl. Der Arzt ließ sie zehn Minuten in dieser wohltätigen Ruhe. Dann strich er ihr wieder über die Augen und das Haar. Ein Strom mächtigen Willenfluidums drang durch die Nerven seiner Finger. Jane schlug die Augen auf und schien es für die selbstverständlichste Sache von der Welt zu halten, daß sie hier im Laboratorium saß.
»Ich bitte Sie, Miß Jane, lassen Sie alles machen, was sie für notwendig halten, und legen Sie mir die Rechnungen bei meinem nächsten Besuch vor. Ich möchte, daß das Laboratorium in gutem Zustande gehalten wird.«
»Jawohl, Herr Doktor. Es soll alles nach Ihren Wünschen besorgt werden.«
Jede Erinnerung an den vorangegangenen Zustand des Hellsehens war bei Jane geschwunden. So befahl es die retroaktive Suggestion, die Dr. Glossin ihr bei der letzten Berührung erteilt hatte. Sie verließ das Laboratorium mit dem Bewußtsein, eine einfache geschäftliche Unterredung mit dem Doktor geführt zu haben. Aber auch jede Sorge um Logg Sar, ja jede Erinnerung an ihn war wie weggewischt. Sie stand für den kommenden Tag unter dem suggestiven Befehl Glossins, war in jenem Zustande, der Silvester früher sooft zur Verzweiflung gebracht hatte. Der Doktor war sicher, daß sie vor dem Ablauf der nächsten vierundzwanzig Stunden kein Interesse mehr an dem Schicksal des Verschwundenen