Bezeichnend waren die bis in die neueste Zeit typischen Bemessungen der Tempel- und vieler sonstiger Pfründen[36] als (vorwiegend) Naturaldeputate. So war denn auch die chinesische Stadt trotz aller Analogien in entscheidenden Punkten etwas anderes als die des Okzidents. Das chinesische Zeichen für »Stadt« bedeutet: »Festung«. Dies galt nun auch für die Antike und das Mittelalter des Okzidents. In China war die Stadt im Altertum Fürstenresidenz[37] und blieb durchweg bis in die Neuzeit in erster Linie Residenz der Vizekönige und sonstigen großen Amtsträger: ein Ort, in dem, wie in den Städten der Antike und etwa in dem Moskau der Leibeigenschaftszeit, vor allen Dingen Renten, teils Grundrenten, teils Amtspfründen und andere direkt oder indirekt politisch bedingte Einkünfte, verausgabt wurden. Daneben waren die Städte natürlich, wie überall, Sitze der Kaufmannschaft und – jedoch in merklich geringerer Exklusivität wie im okzidentalen Mittelalter – des Gewerbes. Marktrecht bestand auch in den Dörfern unter dem Schutz des Dorftempels. Ein durch staatliches Privileg garantiertes städtisches Marktmonopol fehlte[38].
Der Grundgegensatz der chinesischen, wie aller orientalischen, Städtebildung gegen den Okzident war aber das Fehlen des politischen Sondercharakters der Stadt. Sie war keine »Polis« im antiken Sinne und kannte kein »Stadtrecht« wie das Mittelalter. Denn sie war keine »Gemeinde« mit eigenen politischen Sonderrechten. Es hat kein Bürgertum im Sinne eines sich selbst equipierenden stadtsässigen Militärstandes gegeben, wie in der okzidentalen Antike. Und es sind nie militärische Eidgenossenschaften wie die »Compagna Communis« in Genua oder andere »conjurationes«, mit feudalen Stadtherren um Autonomie bald kämpfende, bald wieder paktierende, auf die eigene autonome Wehrkraft des Stadtbezirkes gestützte Mächte: Konsuln, Räte, politische Gilden- und Zunft verbände nach Art der Mercadanza entstanden[39]. Revolten der Stadtinsassen gegen die Beamten, welche diese zur Flucht in die Zitadelle zwangen, sind zwar jederzeit an der Tagesordnung gewesen. Immer aber mit dem Ziel der Beseitigung eines konkreten Beamten oder einer konkreten Anordnung, vor allem einer neuen Steuerauflage, nie zur Erringung einer auch nur relativen, fest verbrieften, politischen Stadtfreiheit. Eine solche war in der okzidentalen Form schon deshalb schwer möglich, weil niemals die Bande der Sippe abgestreift wurden. Der zugewanderte Stadtinsasse (vor allem: der begüterte) behielt seine Beziehung zum Stammsitz mit dem Ahnenlande und mit dem Ahnenheiligtum seiner Sippe, also: alle rituell und persönlich wichtigen Beziehungen, in dem Dorf, von wo er stammte. Aehnlich etwa wie der Angehörige des russischen Bauernstandes, auch wenn er als Fabrikarbeiter, Geselle, Händler, Fabrikant, Literat in der Stadt die Stätte seiner dauernden Tätigkeit gefunden hatte, innerhalb seines Mir draußen sein Indigenat (mit den in Rußland daran hängenden Rechten und Pflichten) behielt. Der Ζεὺς ἑρκεῖος des attischen Bürgers und seit Kleisthenes sein Demos oder das »Hantgemal« des Sachsen waren im Okzident Rudimente ähnlicher Zustände[40]. Aber dort war die Stadt eine »Gemeinde«, in der Antike zugleich Kultverband, im Mittelalter Schwurbruderschaft. Davon finden sich in China nur Vorstadien, aber keine Verwirklichung. Der chinesische Stadtgott war nur örtlicher Schutzgeist, nicht aber: ein Verbands gott, in aller Regel vielmehr: ein kanonisierter Stadtmandarin[41].
Es fehlte – daran liegt dies – völlig der politische Schwurverband von wehrhaften Stadtinsassen. Es gab in China bis in die Gegenwart Gilden, Hansen, Zünfte, in einigen Fällen auch eine »Stadtgilde«, äußerlich ähnlich der englischen »Gilda mercatoria«. Wir werden sehen, daß die kaiserlichen Beamten mit den verschiedenen Verbänden der Stadtinsassen sehr stark zu rechnen hatten, daß, praktisch angesehen, diese Verbände in überaus weitgehendem Maß, weit intensiver als die kaiserliche Verwaltung, und in vieler Hinsicht auch weit fester als die durchschnittlichen Verbände des Okzidents, die Regulierung des ökonomischen Lebens der Stadt in der Hand hielten. In mancher Hinsicht erinnerte der Zustand chinesischer Städte scheinbar an den der englischen teils in der Zeit der firma burgi teils der Tudorzeit. Nur schon rein äußerlich mit dem nicht gleichgültigen Unterschied: daß auch damals zu einer englischen Stadt stets die »Charter« gehörte, welche die »Freiheiten« verbriefte. Dergleichen aber existierte in China nicht[42]. Im schroffsten Gegensatz zum Okzident, aber in Uebereinstimmung mit den indischen Verhältnissen, hatten vielmehr die Städte, als kaiserliche Festungen, im Effekt wesentlich weniger rechtlich garantierte »Selbstverwaltung«[43] als die Dörfer: die Stadt bestand formell aus »Dorfbezirken« unter je einem besonderen tipao (Aeltesten) und gehörte oft mehreren unteren (hsien), in manchen Fällen sogar mehreren oberen (fu) Verwaltungsbezirken mit gänzlich gesonderter staatlicher Verwaltung an[44] – sehr zum Vorteil von Spitzbuben. Es fehlte den Städten schon rein formell die Möglichkeit, Verträge – privatrechtlicher oder politischer Art – zu schließen, Prozesse zu führen, überhaupt korporativ aufzutreten, wie sie die Dörfer – wir werden sehen durch welches Mittel – besaßen. Die auch in Indien (wie in der ganzen Welt) gelegentlich vorkommende faktische Beherrschung einer Stadt durch eine machtvolle Kaufgilde bedeutete dafür keinen Ersatz.
Der Grund liegt in der verschiedenen Herkunft der Städte hier und dort. Die Polis der Antike war – wie stark grundherrlich sie auch unterbaut sein mochte – zuerst als Seehandelsstadt entstanden; China aber war vorwiegend ein Binnengebiet. Soweit auch, rein nautisch betrachtet, der tatsächliche Aktionsradius der chinesischen Dschunken gelegentlich und so entwickelt die nautische Technik (Bussole und Kompaß[45] war, so geringfügig war doch die relative Bedeutung des Seehandels, verglichen mit dem zugehörenden Binnenkörper. Und überdies hatte China seit Jahrhunderten auf eigene Seemacht – die unentbehrliche Grundlage des Aktivhandels – verzichtet und schließlich, im Interesse der Erhaltung der Tradition, die Beziehungen zum Ausland bekanntlich auf einen einzigen Hafen (Kanton) und eine kleine Zahl (13) konzessionierter Firmen beschränkt. Dieses Ende war nicht zufällig. Schon der »Kaiserkanal« wurde, wie jede Karte und auch die erhaltenen Berichte ergeben, geradezu nur gebaut, um den durch Piraterie und vor allem durch die Taifune unsichern Seeweg für die Reissendungen von Süd nach Nord zu vermeiden: amtliche Berichte führten noch in der Neuzeit aus, daß der Seeweg für den Fiskus solche Verluste mit sich bringe, daß die gewaltigen Kosten des Umbaus des Kanals sich rentieren würden. Die spezifische okzidentale Binnenstadt des Mittelalters andererseits war zwar, wie die chinesische und vorderasiatische, regelmäßig eine Gründung von Fürsten und Feudalherren zur Gewinnung von Geldrenten und Steuern. Aber zugleich wurde die europäische Stadt sehr früh ein hochprivilegierter Verband mit festen Rechten, die planvoll erweitert wurden und erweitert werden konnten, weil der feudale Stadtherr damals die technischen Mittel zur Stadtverwaltung nicht besaß und: die Stadt ein Militärverband war, der einem Ritterheer die Tore erfolgreich schließen konnte. Die großen vorderasiatischen Städte, etwa Babylon, wurden demgegenüber früh von der Gnade der bureaukratischen königlichen Kanalbauverwaltung in ihrer ganzen Existenz abhängig. Trotz der sehr geringen Intensität der chinesischen Zentralverwaltung galt dies auch von der chinesischen Stadt. Auch ihr Gedeihen hing sehr stark nicht von dem ökonomischen und politischen Wagemut ihrer eigenen Bürger, sondern von dem Funktionieren der kaiserlichen Verwaltung, vor allem: der Stromverwaltung, ab[46]. Unsere okzidentale Bureaukratie ist jung und teilweise geschult erst an den Erfahrungen der autonomen Stadtstaaten. Das chinesische kaiserliche Beamtentum war sehr alt. Die Stadt war hier – vorwiegend – ein rationales Produkt der Verwaltung, wie schon ihre Form zu zeigen pflegte. Zuerst war die Pallisade oder Mauer da, dann wurde die oft im Verhältnis zum ummauerten Areal unzulängliche Bevölkerung, eventuell zwangsweise