Da kam der Meister über die Stiege heraufgehastet, Sorge in den Augen. »Was ist denn mit dem Kind?«
»Nichts, lieber Nick! Oder doch nichts Böses. Im Gegenteil. Dein Kind hat einen Sprung aus dem Kalten ins Warme getan. Das geht nit ab ohne festen Beutler. Jetzt müssen wir dem kleinen Weibl ein bißl Ruh vergönnen und müssen sie schlafen lassen.«
In den Augen des Meisters wollte die Sorge nicht erlöschen. »Schlafen?«
»Aufs erste Kirschwasser schlaft man allweil. In späteren Jahren mindert sich die gute Wirkung. Komm! Wir gehen hinunter in die Werkstatt!« Er wurde ernst. »Da hab ich gesehen, was mir arg mißfallen hat. Mensch bleiben, heißt bauen und schaffen, nit in Scherben schlagen.«
Drunten im Flur stand die Sus mit seitwärts gespreiteten Armen an der Mauer, zitternd, im Blick den Ausdruck einer qualvollen Angst. Etwas Tierisches und dennoch etwas Schönes war in ihren Augen. Der Pfarrer ging an der Magd vorüber, ohne sie zu gewahren. Meister Niklaus blieb stehen und sah sie an, verwundert, als sähe er etwas an ihr, was er noch nie gesehen hatte. »Sus!« Sie neigte vor seinem Blick die Stirn: »Jetzt muß ich zum Herd. Das Wasser wird eingesotten sein und das Fleisch wird schlecht.« Ein müdes Lächeln. Dann ging sie davon. Er sah ihr nach und blieb noch immer stehen, obwohl die Sus in der Küche schon verschwunden war.
Der Pfarrer stand in der Werkstätte vor dem roten zerquetschten Wachsklumpen. »Herzbruder Nick? Was hast du denn da getan?«
»Fast weiß ich es selber nit.« Meister Niklaus faßte erregt ein breites Messer und schnitt die formlose Wachsmasse von der hölzernen Platte. »Es ist mir, als hätt ich's im Zorn getan.« Mit der Linken knüllte er das Wachs zu einem Ballen. »Oft ist's wie ein Fremdes, was man tut. Kann sein, ich hab Platz machen müssen für ein Ding, das besser ist.« Er wurde ruhig. Und während er mit dem Pfarrer sprach – von Luisas Heimkehr am Morgen, von seinem jähzornigen Hammerstreich, von der Mutter Agnes, vom Eis auf dem Königssee und von dem süßen Krapfen – preßte er eine Wachsflocke um die andere auf das Holz, schnitt mit dem Daumennagel und formte mit den Fingern. Und plötzlich, die Arbeit unterbrechend, sah er den Pfarrer an. »So sag mir doch die Wahrheit! Was ist mit dem Kind?«
»Das ist schnell gesagt. Sie hat den Leupolt gern und weiß es noch nit. Da rumort das Neue ein bißl hitzig in ihrem kühlen Klosterstübl.«
Aufatmend flüsterte Niklaus: »Das wär ein Glück! Da tät's wieder heller werden in meinem Haus.«
Ein Summen an den Fensterscheiben. Man hörte rasch nacheinander aus weiter Ferne her den Hall und das Echo von fünf Gewehrschüssen. »Hörst du?« lachte der Pfarrer ingrimmig. »Derweil die Herzensnot der Menschen umlauft im ganzen Ländl, erlustigt sich die Allergnädigste an den Untersteiner Wildsauen. Ein Gutes hat auch das. Die Sorg um den Leupolt ist aufgeschoben. ‚Tod ist Tod,‘ sagt meine Schwester allweil, ‚aber besser morgen als heut.‘ Dein Mädel tu schlafen lassen, bis es von selber aufwacht. Nach dem Quantum Kirschwasser, das ich dem blinden Klosterspatzen eingegossen hab, wird's lang dauern, bis er wieder piepsen kann. Und du bleib bei der Arbeit, Nick! Sie ist von allem Lebenstrost der beste.«
Kapitel VIII
Im Wehen des Föhns, bei blitzendem Tropfenfall und in Sonne, schmetterten vier Hifthörner die Sautodweise durch den Untersteiner Wald. Auf rotfleckigem Schnee, zwischen der grünmaskierten Fürstenkanzel und dem mannshohen Stellnetz, lagen die drei zur Strecke gebrachten hauenden Schweine, festlich aufgeheitert, mit Fichtengrün bekränzt, mit kirschroten Seidenmaschen an den Lusern und an den zottigen Schwänzen. Die graulivrierte Stiftsjägerei war in Reihe gestellt, und rings um die erlegten Keiler gaben die weiß und braun getigerten Saurüden in ihren dick unterfütterten Barchentpanzern Standlaut. Nach einer vierstimmigen Fermate schwiegen die Hörner, um gleich darauf die sanfte Dianenweise zu beginnen, die zu Ehren der edlen Aurore de Neuenstein geblasen wurde. Mit Grazie kam der Hofzug durch den Schnee geschritten, voraus der Fürstpropst Anton Cajetan mit der Allergnädigsten en titre. Nach französischer Vorschrift für ein Eingestelltes Treiben auf Wildschweine trug er ein hechtgraues, reich mit Silber besticktes Jägerkleid, an dem zwei kleine Bäffchen den Priester unvordringlich andeuteten, und darüber einen offenen, kostbaren Pelz, der durch den degenförmigen Hirschfänger vom Körper abgespreitet wurde. Unter dem silberbetreßten Dreispitz quoll ein geschnörkelter Lockenbau hervor. Zwischen den Haarschnecken spitzte sich ein weißes, tadellos rasiertes, schon greisenhaftes Schmalgesicht heraus, launig lächelnd, ein bißchen spöttisch und nicht ohne Energie.
Ehe Herr Anton Cajetan im vergangenen Jahr von den sieben Stiftsherren zum Fürstpropst gewählt wurde, war er durch zwei Jahrzehnte als Dekan des Stiftes ein geschäftiger Vorkämpfer der Kapitularen um ihre Selbständigkeit gewesen, um ihre Loslösung von der mönchischen Regel, um ihre Verwandlung in freie Chorherren mit allen weltlichen Vorrechten edler Geburt. Da hatte er scharfe Worte, nicht nur gegen die begründeten Ansprüche des wohlmeinenden Churfürsten von Bayern, auch gegen den Papst geredet und geschrieben. Im Streite gegen die ‚evangelischen Rebellen‘ hatte er eine aus Vorsicht und Konsequenz gebildete Faust erwiesen. Während aus dem Salzburgischen die ‚gottsfeindlichen Landsverräter‘ zu vielen Tausendscharen ausgewiesen wurden, statuierte Herr Anton Cajetan als Dekan und Propst nur ein paar abschreckende Exempel und hatte, wie er noch immer glaubte, seine Stiftslande frei erhalten von einem staatsgefährlichen Anwachsen des Schwarmgeistes. Seit Beginn des evangelischen Aufruhrs im Salzburgischen hatte der Fürst, um alle aufreizenden Nachrichten von außen abzusperren, jede Straße durch einen Grenzriegel von Musketieren verschlossen. Daß dadurch der Wohlstand im Lande sank, aller Handel unterbunden war und die Steuerkraft der Bauern, Handwerker und Kaufleute vermindert wurde, das zählte nicht. Wenn nur die Landsruh und der reine Glaube erhalten blieb! Bis wieder bessere Zeiten kamen, konnte man borgen. Aber wo? Die Schulddokumente des Stiftes füllten schon viele Schränke, erschreckend wuchsen von Jahr zu Jahr die Kosten der höfischen, aus Standesrücksichten unerläßlichen Pariserei, und immer bedrohlicher begannen die hilfreichen Brunnen zu versiegen, um so mehr, je übler es der Berchtesgadnische Hof mit dem Churfürsten von Bayern verschüttet hatte, der früher dem Berchtesgadnischen Land ein hilfsbereiter Schutzfreund gewesen war. Die Frage, wo neue goldene Hilfsquellen zu erschließen wären, verursachte Herrn Anton Cajetan schlummerlose Nächte. Das Bauerngerede, daß der Allergnädigste nicht schlafen könne, weil ihm der allzuviele Wein den Magen versäuere, war eine Verleumdung. Im Gegenteil: Herr Anton Cajetan bedurfte reichlich der spiritualen Beruhigung, weil ihm die gähnende Kassensorge den Schlummer verwehrte.
Diesen Regierungsgram hatte er nicht zur Wildschweinhetze mitgenommen. Er blickte heiter in die Sonne, und das leise Spottzucken seiner Mundwinkel war feingalantes Vergnügen an der Tatsache, daß seine hübsche Freundin en titre sich gläubig einen weidmännischen Erfolg hatte aufschwatzen lassen, den sie nur dem korrigierenden Beistand der Domizellaren verdankte. Die zerschmetterte Wirbelsäule des einen Keilers war einwandfrei ein Werk ihrer kleinen Dianenhände. Die Blattschüsse der beiden anderen Keiler waren höfische Nachhilfe, die von allen Schützen mit den heiligsten Eiden verleugnet