»Luisichen!« rief er, während er hinaufhastete über die Treppe. »Luisichen!« Er stieß die Wohnstube vor sich auf. »Luisichen! Luisichen!« Er rüttelte an des Mädels verschlossener Kammertür. »Aber Kind! So tu doch reden! Bist du da drin?« Er vernahm einen Laut. War's ein lallendes Beten? Ein Stöhnen in Schmerz? Mit aller Kraft seiner Sorge warf sich der Greis gegen die Tür. Der Riegel klirrte in die Stube hinein, Pfarrer Ludwig taumelte über die Schwelle und tat im ersten Schreck einen heiseren Schrei. Erstarrt hing Luisa vor ihm an der weißen Mauer, wie eine Gekreuzigte, umwoben von der Sonne. Ihre Arme, von denen die leinenen Ärmel zurückgefallen waren, hatten eine gedunsene Form und waren so rot wie das Mieder, unter dem die junge Mädchenbrust in heftigen Stößen atmete. Oberhalb der schnürenden Tuchschlingen waren die Hände dunkelblau, mit gespreizten, leblosen Fingern. Und der Kopf mit den schweren Haarflechten hing entkräftet vornüber. Ein paar lallende Laute noch. Dann schien eine Ohnmacht die Sinne der Büßerin zu umschatten.
Pfarrer Ludwig schrie den Namen der Sus, sprang auf Luisa zu, riß das Messer heraus, das er wie ein Bauer an der Hüfte trug, umklammerte die Bewußtlose mit dem linken Arm und schnitt die gestrafften Tuchschlingen von den Holzzapfen. »Da möcht man doch verzweifeln an der Menschheit!« keuchte er und trug die Ohnmächtige hinüber zum Bett. Als er die Sus kommen hörte, befahl er: »Lauf, was du laufen kannst, und bring einen Becher Kirschwasser!« Er zerrte die Tuchschlingen von Luisas Handgelenken, begann ihre starren Arme zu kneten und rieb ihre Hände, bis die blaue Färbung verschwand und der Blutlauf wieder in Gang geriet. Nun brachte die Sus den Becher und stammelte: »Was ist denn geschehen?«
»Nit viel!« Er konnte lachen. »Ein bißl Dummheit geht um in den Menschenköpfen. Wer weiß, wozu es gut ist! Ein Holländer hat mir neulich gesagt: ‚Kein Ding, das dem Leben nit dienen könnt, auf daß die Menschenkinder teilhaftig werden des Glückes!‘« Mit dem Becher beugte der Pfarrer sich über das Bett und flößte einen festen Guß des Kirschwassers in Luisas Mund. Sie schluckte. »Soooo, Kindl! Gelt, das ist gut!« Er stellte den Becher fort und rückte den Fußteil des Bettes von der Mauer weg. »Flink, Sus! Auf die ander Seit hinüber! Mach dem Mädel das Mieder und den Rockbund auf. Wir müssen schauen, daß wir sie unter die Deck bringen.« Hurtig rieb er die Hand der Ohnmächtigen. »Dann nimm ihren anderen Arm und tu mir alles nachmachen, fest und flink!«
»Was ist denn, Hochwürden?«
»Ach, so dumme Mädelgeschichten! Da ist sie ein bißl krämpfig worden.«
Während Sus das rote Miederchen der Haustochter aufnestelte, klagte sie vor sich hin: »Um Gottes willen!«
»Nein, gute Sus! Gott ist da nit dabei. Nur Überfluß an jungem Blut und ein bißl Mangel an gesundem Verstand.«
Unter den vier kräftigen Fäusten wurden die zwei starren Mädchenarme heiß und beweglich. Auch das verschluckte Kirschwasser wirkte mit, um das junge Blut seinen vernünftigen Weg wieder finden zu lassen. Luisa öffnete die Lider wie eine Schlaftrunkene. In schwimmendem Glanze glitten unter den langen Wimpern die langsamen Augen. »Guck!« Der Pfarrer ließ auf seiner Wange die große Warze tanzen. »Wie munter das liebe Kindl schon wieder ins Leben blinzelt! Lauf, gute Sus! Und spring hinüber zu mir! Da wartest du auf den Meister. Kommt er, so bring ihn heim und sag ihm: das Kindl hätt einen Purzelbaum gemacht. Aber sag's nit so, daß der Meister erschrecken muß. Sag's lieber so, daß er lachen kann.« Die Sus, aufatmend, surrte in den Flur hinaus. Aller Schreck der verwichenen Minuten erlosch ihr in dem Gedanken, daß sie hinlaufen durfte, wo der Meister war. »So, Luisichen, komm, jetzt nimm zur Aufmunterung noch ein kleines Schlückl!« Pfarrer Ludwig schob den Arm unter Luisas Nacken und führte den Becher an ihren Mund.
Gehorsam, wenn auch noch immer ein bißchen duselig, öffnete sie die Lippen und trank. Nach dem ersten Schluck erweiterten sich ihre Augen wie in Entsetzen. Mit beiden Händen versuchte sie sich zu wehren und lallte: »Jesu mein, Ihr gießet mir ja die Höll ins Leben!«
»Umgekehrt! Ich lösch in dir die unsinnige Höll mit einem nötigen Lebenstrunk! Tu schlucken! Fest!« Er hob und goß, bis der Becher leer war. Weil sie nicht schlucken wollte, preßte er die linke Hand auf ihren Mund, faßte mit der rechten den feinen Mädchenhals und rüttelte die widerspenstige Kehle. »Schluck, mein Luisichen! Schluck!« Ob Luisa wollte oder nicht, sie mußte schlucken. Die brennende Kirschwasserhölle war drunten. Daraus ergab sich eine sehr sonderbare Wirkung. Obwohl von Zorn und Ekel die Tränen in Luisas Augen traten, konnte sie die kühlen Greisenfinger an ihrem Halse nicht ertragen, mußte aufkreischen, mußte lachen wider Willen. »Ooooh, Luisichen?« Der Pfarrer wurde lustig. »Muß man dich kitzeln, damit du das menschliche Lachen lernst? Das kann ich besorgen. Lach, mein Luisichen, lach! Wie mehr, so gesünder ist es!« In der Art, in der man schäkert mit einem zappelnden Buben, begann er sie am Hals zu kitzeln, am Kinn, an den Ohren, an den Ellbogen und unter den Armen.
Sie wollte sich wehren und wurde hilflos, wand sich und kreischte, schüttelte die sich lösenden Zöpfe von ihrer Stirn herunter und schrie und lachte. Immer wollte sie betteln: »Hör auf, hör auf!« Und konnte nicht reden, weil sie lachen mußte, immer lachen und lachen.
»Brav, mein Kindl! Netter bist du noch nie gewesen, als jetzt in deinem zappligen Übermut! Gelt, ich hab recht? Bloß ein Lachender merkt, wie munter und kostbar das irdische Leben ist!«
Es gelang ihr, sich seinen Händen zu entwinden. Halb noch lachend, halb von Jähzorn befallen, faßte sie eines von den zwei weißen Kissen ihres Bettes und warf es dem Pfarrer Ludwig an den Kopf.
Er haschte das linde Geschoß, umschlang es an seiner Brust und sagte fröhlich: »Gott sei Dank! Eine menschliche Regung! Kindl, jetzt kann man bei dir auf Genesung hoffen!«
Zitternd fiel sie zurück und preßte den Arm über die Augen. Der Pfarrer setzte sich auf den Bettrand hin, behielt das weiße Kissen auf seinem schwarzen Schoß und betrachtete unter freundlichem Lächeln das stumme, glühende, um Atem ringende Menschenkind, das die Augen vor ihm versteckte. Einmal versuchte Luisa den Arm zu heben, ließ ihn wieder auf die Augen fallen und lispelte: »Ich weiß nit, was das ist – alles tut sich drehen um mich herum.«
»Kindl,« sagte der Pfarrer vergnügt, »da hast du einen Schwips. Vom Kirschwasser. Ja, Luisichen, wer anderthalb Jahrzehnt das kühle Brunnenwasser im Kloster genossen hat, vertragt was Wärmeres nit aufs erstemal.« Er lächelte. »Lernen brauchst du das nit: daß du Kirschwasser vertragen kannst wie Geißmilch. Heut ist's nötig gewesen. Sorgen brauchst du dir wegen des kleinen Räuschls nit zu machen. Das verschlafst du wieder!« Seine Stimme bekam einen zärtlichen Klang. »Auch ist das so: daß alles Schönste im Leben mit einem Räuschl anfangt, sei es im Hirnkästl oder sei es im jungen Blut.« Luisa blieb stumm. Während die Morgensonne herglänzte über das weiße Bett, ging ein schmerzvolles Zucken um den heißroten Mädchenmund. Manchmal überrieselte noch ein Nachschauer des Lachens den zierlichen Körper, und unter dem Arm, der die Augen verhüllte, quollen die Tränen hervor, kollerten über die glühenden Wangen und versanken im braunblonden Schimmerkissen der gelösten Zöpfe. Sich vorbeugend, sagte der Pfarrer langsam: »Kindl, wie bist du lieb und schön! Was tät der Leupolt geben drum, wenn er an meinem Plätzl sitzen dürft. Und morgen oder übermorgen muß er am Schandpfahl hängen. Der redliche Bub!« Ein knirschender Laut; Luisa warf sich herum und vergrub das Gesicht in die Fülle ihres Haares. So lag sie lautlos, während ein heftiges Schüttern ihren Nacken und ihre Schultern befiel. Als sie ruhiger wurde, gab sie Antwort auf jede Frage. Alles sagte sie, ehrlich und ohne Rückhalt.
Der Pfarrer fröstelte ein bißchen. Obwohl die Sonne durchs Fenster hereinfiel und draußen der laue Föhnsturm