Ein Erblassen ging über das Gesicht des Meisters. Dann fuhr ihm wieder das dunkle Blut in die Stirn. Seinen Augen war's anzusehen, daß martervolle Gedanken sich unter seiner Stirne jagten. Mit rauhem Auflachen trat er auf das sonnige Fenster zu und streckte die Arme, als möchte er hinausgreifen durch die leuchtenden Scheiben. »Nachbarsleut! Ihr guten, schuldlosen Nachbarsleut! Verzeiht mir die schlechten Gedanken! Es ist mein Kind gewesen! Mein eigenes Kind!« Eine Sorge, die ihn ganz verstörte, riß ihn vom Fenster weg. Die Schulter des Mädchens mit der Faust umklammernd, keuchte er: »Hast du auch heut wieder solchen Rat gesucht?«
»Wie es sein hat müssen. Ich bin seit der bösen Nacht des Trostes bedürftig gewesen an Leib und Seel.«
»Und da hast du ihm alles gesagt, deinem Tröster? Alles?«
»Ich tu nit lügen, Vater! Ich hab gesagt, was ich sagen hab müssen.«
»Und da hast du auch – Gott soll's verhüten, daß es wahr ist – –« Er konnte nicht weitersprechen, mußte um Atem ringen. »Kind! Du hast doch ums Himmelswillen nit den Namen des guten Buben verraten, der mich gewarnt hat?«
Sie schwieg, erschüttert durch die Sorge, die heiß aus ihm herausbrannte.
Er las die Antwort in ihren Augen und sagte mit schwerer Trauer: »Armseliger Star! Wüßt ich nit, daß du in deiner weltfremden Jugend törig bist ohne Maß, so müßt ich sagen: du bist so schlecht, wie nur der Zwist um Himmel und Glauben die Menschen machen kann!« Immer mit der Holzhand an seinem Halse, ging er durch die Werkstatt hin und her, und während Erregung und Sorge in ihm wühlten, stieß er mit heiserer Stimme vor sich hin: »Ein guter und redlicher Bub! Und bietet dir auf ehrlicher Hand sein Glück und Herz! Und wirft um deinetwegen sein junges Leben vor meine Haustür hin! Und du in deinem gutgläubigen Seelengezappel verklamperst den Buben! Und lieferst ihn an den Schandpfahl! Und da droben in den Lüften da ist niemand, der's verhindert, kein Engel mit dem Lilgenstengl und keine hilfreiche Mutter in Züchtigkeit!« Ein zorniges Auflachen. »Wahr ist's, Mädel! So was Heiliges darf man nit irdisch formen! Das muß man himmlisch machen, grausam und ohne Erbarmen!« Wieder lachend, faßte er einen schweren Hammer und hob ihn zum Schlag. Aufschreiend versuchte Luisa den Arm des Vaters zu fangen. Da fuhr der zornige Streich schon auf das Bildwerk nieder. In Strahlen spritzte unter dem Hammerschlag das rote Wachs auseinander, und was auf der Holzplatte noch verblieb, war eine formlose Masse. Schweigend warf der Meister Niklaus den Hammer fort und umklammerte die Stirne mit der linken Hand. So stand er ein paar Sekunden. Dann sprang er zur Tür der Werkstätte. Draußen seine schreiende Stimme: »Sus! Den Hut! Den Mantel!«
Luisa stand in der Sonne wie eine steinerne Säule, die langsam zu menschlichem Atem erwacht und beim ersten Blick ins Leben geschüttelt wird von Angst und Grauen. Die Arme streckend, trat sie auf das vernichtete Werk ihres Vaters zu, beugte das Gesicht und küßte die rote Masse des zerquetschten Wachses. Ihre Stimme, die verwandelt war zu den dünnen Lauten eines verängsteten Kindes, bettelte ins Leere: »Tu ihm verzeihen, hilfreiche Mutter! Ich – will büßen – für seine Sünd –« Mit den Bewegungen einer Schlafwandlerin ging sie umher, fand ihr Mäntelchen, den Hut, das blaue Gebetbuch und den Rosenkranz, wickelte die Perlenschnur um ihre zitternden Finger und verließ die Werkstatt.
Während sie mit irrendem Blick zu ihrer Kammer hinaufstieg, klang aus dem verschneiten Garten die angstvolle Stimme der Sus durch die offene, wieder geflickte Haustür in den Flur herein: »Um Gottes Barmherzigkeit! Meister! Was ist denn geschehen?« Luisa hörte keinen Laut dieser von Sorge zerrissenen Mädchenstimme. Sie lauschte nur in die eigene Seele. Was sie da klagen hörte, entstellte ihr Gesicht.
Als sie in ihrer Kammer die Tür verriegelt hatte, stand sie unbeweglich. Immer sah sie das weißverhüllte Bett an, und immer sah sie, was sie in jener Nacht gesehen hatte: diese stahlblauen, dürstenden Jünglingsaugen, die von hundert silberweißen Mücken umflogen waren – und sah das zerquetschte Wachs, sah die Martergestalt einer heiligen Frau, die rot war und zu bluten schien aus tausend Wunden.
Langsam, immer wieder die Augen schließend, hängte sie das Mäntelchen in den Kasten, verwahrte das Gebetbuch, den Rosenkranz, die Handschuhe und das Hütl. Sie schnürte die gelben Stiefelchen von den Füßen, nestelte den Spenser herunter und legte ihn gefaltet in die Lade. »Büßen – büßen –« lispelte sie mit entfärbten Lippen vor sich hin. »Für den Vater büßen – alle erlösen, die schuldig sind.« Welche von den Sündenstrafen, die sie im Kloster gesehen hatte, war die härteste? Hungern müssen am Mittagstische? Zehn Vaterunser lang auf einem scharfkantigen Holzscheit knien? Sieben Rosenkränze beten, mit den nackten Füßen im Schnee? Sie sann und sann. Und da erwachte in ihr die Erinnerung an ein Bild, vor dem sie zitternd gestanden, als sie es zu warnender Abschreckung im Kloster hatte betrachten müssen. Wie man jene junge, sündhafte Schülerin bestrafte, die in der Messe ein verstecktes Spiegelchen aus dem Ärmel herausgezogen hatte – das war von allen Klosterstrafen die quälendste gewesen.
Ihre Augen glitten über die Mauer hin. Höher, als sie mit den Händen reichen konnte, war an der weißen Wand ein festes Zapfenbrett, aus den Jahren, in denen Meister Niklaus diese Kammer bewohnt hatte – bei der Heimkehr seines Kindes hatte er die Stube geräumt, weil sie in seinem Haus die sonnigste war. Wie eine Träumende, verriegelte Luisa auch die andere Tür, die hinausführte in die Kammer der Sus. Aus der Truhe nahm sie zwei weiße Tüchelchen, knüpfte aus jedem eine Schlinge und schob sie über das Handgelenk. Sich bekreuzend, ging sie zum Bette, tauchte die Finger in das Weihbrunnkesselchen und besprengte das Gesicht. Ihre Bewegungen wurden rascher, etwas Frohes schien in ihren irrenden Gedanken zu erwachen. Sie rückte unter dem Zapfenbrett einen Schemel an die Wand und stieg hinauf. Mit dem Rücken sich gegen die Mauer pressend, schob sie die Schlingen, die an ihren Handgelenken waren, über die zwei äußersten Holzzapfen des Brettes und stieß den Schemel fort. Mit den Fußspitzen eine Spannenbreite über dem Boden, hing sie an den ausgereckten Armen und begann mit einer Stimme, die bei aller Innigkeit wie das Stammeln einer Betrunkenen klang, die Litanei zur heiligen Jungfrau Maria zu beten – nur daß sie nicht betete: »Bitt für mich!«, sondern immer betete: »Bitt für ihn!«
Solange sie noch bei Kräften war, hielt sie den Kopf an die Mauer gepreßt und sah mit heißglänzenden Augen zur Höhe. Bald sank ihr die Wange gegen die rechte, bald gegen die linke Schulter hin. Als sie in beginnender Pein das Gesicht zu drehen versuchte, sah sie an ihrem Arm, von dem der weiße Ärmel zurückgefallen war, die vier gelblich gewordenen Male, die vom Griff jener stählernen Jägerfaust geblieben waren. Zusammenzuckend, schloß die Büßende die Augen, ließ das Gesicht vornüberfallen, und ihre betende Stimme wurde zu einem versunkenen Schreien. In Schmerzen begann der stammelnde Mädchenmund zu lächeln, und auf dem glühenden Gesicht erschien ein Ausdruck der Entrückung. Nicht die härteste der Klosterstrafen hatte sie ausgesucht, sondern die süßeste und heiligste – eine fromme Marter, die durchzittert war von dem Seligkeitsgefühl: zu leiden, wie der Heiland gelitten hatte für die Menschen, die er liebte. Während sie lächelte in Qual, begann ihre Stimme sich zu verwirren, verlor die frommen Anrufungen der Litanei und behielt nur noch die drei innigen Flüsterworte: »Bitt für ihn – bitt für ihn – bitt für ihn –«
Gleich einer goldenen, immer breiter wachsenden Säule schob sich das leuchtende Band der Morgensonne über die Mauer hin und umschimmerte die in Süßigkeit und Schmerzen Betende, die für Andacht und Buße hielt, was ein noch Unsichtbares in ihrem Herzen war, ein Unbewußtes in ihrem Blut.
Kapitel VI
Der Föhn brauste über die Schornsteine von Berchtesgaden und verbündete sich mit der steigenden Sonne. Von allen