Er stieg vom Schlitten, stemmte schräg den Stachelstock vor sich hin und staunte stumm hinein in das flimmerweiße, läutende Mondnachtwunder. Der weite Bogen der hohen Berge war durchwürfelt von Schimmerlicht und tiefen Schatten. Fern, am Fuß der gleißenden Wände, lagen drei schwarze Punkte im Weiß, die beschattete Kirche, der Jägerkobel und das Herrenschlößl von St. Bartholomä. Dahinter stieg das leuchtende Märchen empor. Zwischen den schillernden Eiskaskaden der in Tropfsteinformen gefrorenen Sturzbäche lagen seltsam gezeichnete Schattengebilde, bald wie schwarze Riesentiere, bald wie finstere Männerköpfe und Frauengestalten. Droben in der höchsten Höhe mußte Föhnsturm wehen. Wie silberne Bänder, wie duftige Schleier, wie weiße Mäntel, gesäumt mit Regenbogenschimmer, flog der aufgewirbelte Staubschnee von den Bergspitzen gegen den leuchtenden Himmel hinauf, an dem die Sterne wie winzige Nadelspitzen glänzten und fast verschwanden neben dem Vollmond. Der war anzusehen wie ein rundes Funkelfenster, in dem ein Mann und ein Weib einander küßten mit unersättlicher Inbrunst. Ruhelos tönten und sangen dazu mit tiefen und hohen Glockenstimmen die vielen Frageln, die an hundert Stellen das vom schwellenden Seewasser emporgedrängte Eis entzweirissen – ein klingendes, dröhnendes Andachtsläuten der Natur, die ihren Schöpfer lobte. »Herrgott im Himmel, wie mächtig und groß bist du!« Diese Worte stammelnd, klammerte Leupolt die Fäuste ineinander. Er betete: »Herr, wenn ich dich nur hab, so frag ich nimmer nach Himmel und Welt. Auch wenn mir Leben und Seel verschmachten, bleibst du mein Heil und meines Herzens Trost!« So hatte in der letzten Neumondnacht auf dem Toten Mann ein Salzburger gebetet, der aus dem Brandenburgischen gekommen war und Botschaft brachte von den in Ostpreußen angesiedelten Exulanten. Und der Salzburger hatte erzählt: so hätte er den preußischen Königsprinzen Friedrich beten hören, der ihnen Hand und Hilf geboten wie ein Bruder den Brüdern.
Noch lange stand Leupolt unbeweglich im Schnee. Plötzlich quoll ihm ein heißer Laut aus der Kehle. War's ein erwürgtes Schluchzen, oder ein erstickter Schrei der Sehnsucht in seinem Blut? Nach einer Weile das leise Wort: »Ach, Mädel, wie hab ich dich lieb! Wo ich hinschau, überall bist du!«
Ihm war im Schnee und im knirschenden Winterfrost so schwül, daß er an der Brust seinen Jägerkittel aufreißen mußte. – –
– Und um die gleiche Stunde, in einer von zwei Kerzen erhellten weißen Stube, in deren Feuerloch die Kohlen noch glühten, fror ein Schlafloser, daß ihm beim Schreiben die Zähne schnatterten. Der Pfarrer Ludwig.
Er hatte den Mantel um Hals und Brust geschlungen, daß unter dem schwarzen Saum nur die Fingerspitzen mit der Kielfeder hervorguckten. Leib und Beine waren noch in eine wollene Decke gewickelt. Die Feder raschelte und spritzte ein bißchen, während sie in lateinischer Sprache ein Buchstäbchen ums andere hinmalte auf das gelbliche Papier. Was Pfarrer Ludwig in seinem Kirchenlatein vom Inhalt des hebräischen Briefes, der sich in Asche verwandelt hatte, für seine einsamen Stubenstunden festzuhalten versuchte, das hätte in deutscher Sprache gelautet:
»Alles Wissen und Geschehen muß dem Leben dienen, damit der Lebende des ihm möglichen Glückes teilhaftig wird. Als Anfang mußt du erkennen, Mensch, daß alles ein Einziges ist. Der Vater hat viele Kinder. Sie kommen und gehen. Er ist der Einzige, der immer gewesen ist und immer sein wird. Ob du Gott sagst oder Natur, Geist oder Körper, immer nennst du das Gleiche. Das Ewige ist in sich geschlossen und muß vollkommen sein. Da Gott nicht begehren kann, was er nicht schon hätte, kann er ein Werdendes nicht wollen um eines neuen Zweckes willen. Alles ewig Werdende ist ein ewig Gewesenes. Gott ist Bewegung und Ruhe, ewiges Wirken und ewige Zufriedenheit. Das fühlst du, Mensch, wie ein Tropfen fühlt, daß er ein Teil des Meeres ist. In jedem Körper ist Geist vom Geiste. Fühle dich als Gottes Kind, als Blutstropfen des Ewigen, als Körnchen im Berge von Gottes Größe. Weil du als Teil das Ganze nicht sehen kannst, drum siehst du immer ein Unzulängliches. Sei ein Suchender, und du näherst dich der ewigen Wahrheit! In jedem Ding ist Trieb nach der Heimat, in jedem Wesen ein Trieb zu Gott. Jeder Schritt, dem Vollkommenen entgegen, erhöht deine Kraft. Wende dich ab vom Zug des Ewigen, und Furcht und Reue werden dich erfüllen. Du bist nicht schuldig deiner selbst, nur schuldig deiner irrenden Straße. Vom Guten und Schlechten hast du ein ewiges Wissen in dir: die Sehnsucht und den Ekel. Gott leitet und warnt dich nicht, alle Stimmen deiner Wege sind in dir selbst. Schau in die eigene Seele und in das eigene Blut; je tiefer du schaust, so deutlicher sprechen die Weiser deines Weges. Jedes Rasten ist Verlieren. Der willig Schreitende ist ein Wachsender an Macht und Freude. Willst du zu Gott, so wirst du bei ihm sein. In seinen Armen bist du ein Freier, ferne von ihm ein Knecht ohne Hände.«
Pfarrer Ludwig legte die Feder fort, und während ihn immer wieder ein Frostschauer rüttelte, überlas er, was er geschrieben hatte. »Ob ich es richtig verstanden hab?« sprach er leise vor sich hin. Der Ernst seiner Augen begann sich aufzuhellen. »Man muß da halt auch wieder glauben!«
Mit einem wunderlich frohen Lächeln, das seinem Warzengesicht einen kindhaften Ausdruck gab, ließ er aus der dicken Platte seines Schreibtisches ein nur fingertiefes Lädchen herausspringen, verwahrte die beschriebenen Blätter und drückte das Geheimfach wieder zu.
Hurtig, immer ein bißchen mit den Zähnen schnatternd, wickelte er den Mantel von sich herunter und begann sich zu entkleiden. Als er schon barfüßig war und nur noch das Hemd und die Bundhose trug, fiel ihm der schöne, fast lebensgroße Crucifixus in die Augen, der, ein Jugendwerk des Meister Niklaus, an der weißen Mauer hing.
Sinnend blickte Pfarrer Ludwig zu dem von Dornen gekrönten, gütig lächelnden Antlitz empor. »Mir scheint, ich weiß ein bißl, was du jetzt denkst von mir!« Er höhlte die Hände um die Füße des Gekreuzigten. »Du Fröhlicher! Verzeih's deinem alten treuen Narrenschüppel, weil er um so sehnsüchtiger ein Mensch sein möcht, je näher ihm das kommt, daß er einer gewesen ist!« Zärtlich küßte er den eisernen Nagel, der durch die Füße des Erlösers getrieben war.
Kapitel V
Seit drei Tagen hatte bei klarem Himmel der Föhn über die Berge hingeblasen und hatte schon an sonnseitigen Gehängen den Schnee zusammengebissen zu einer dünnen Kruste. Gegen den vierten Morgen begann man den lauen Südwind auch im frostigen Tal zu fühlen.
Bei Tageserwachen, ein Freitag war's, beschlugen sich die Spitzen der Berge mit dem Goldglanz der kommenden Sonne. Dennoch hatte der Morgen keinen reinen Himmel. Von den Zahnspitzen des Wazmann strebten kleinzerstückelte Wolkenstreifen gegen Norden. Die waren anzusehen wie endlose Züge kleiner Weißgestalten, die von Süden emporstiegen und da droben hinwanderten über blaublühende Leinfelder.
Dieser Gedanke kam dem Meister Niklaus, als er durch das große, schwervergitterte Fenster seiner Werkstätte zum Himmel hinaufsah. Er mußte an die Tausendscharen der Salzburgischen Exulanten denken, die aus der Heimat nach dem Norden gezogen waren. Der Freiheit, dem ungehinderten Glauben entgegen? Oder zu neuer Not, zu noch tieferem Elend? War den Stimmen zu trauen, die aus dem Pflegeramt herauskamen und sich überall im Lande lautmachten, so hatten die Salzburger ein hartes Los gefunden. Zu Hunderten waren sie auf ihren Wanderwegen siech geworden und gestorben, und jene, die den Frost und die Not des Hungers überstanden, bekamen Spott und Schimpf zu erdulden, Unrecht und Mißhandlung. Man hatte den Emigranten ihre Kühe