Rot und Schwarz. Стендаль. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Стендаль
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783961180882
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unglücklich.

      »Geh von mir! Fliehe!« flüsterte sie ihm einmal zu. »Im Namen Gottes, verlass mein Haus! Deine Gegenwart mordet mein Kind!« Und dumpf setzte sie hinzu: »Der Allmächtige straft mich. Und mit Recht. Ich bete seine Gerechtigkeit an. Meine Sünde ist zu schändlich. Nicht einmal Reue empfand ich. Ein Beweis, dass ich bereits von Gott verlassen war. Nun muss ich doppelt büßen.«

      Julian war tiefgerührt. Er vermochte in ihren Selbstvorwürfen weder Heuchelei noch Übertreibung zu erkennen. »Sie ist des Glaubens«, sagte er sich, »ihren Sohn zu morden, wenn sie mich liebt. Und doch liebt mich die Unglückselige mehr als ihren eigenen Sohn. Ich darf nicht zweifeln: die Reue tötet sie. Wahrlich, das ist Gefühlsgröße! Wunderbar, dass ich armer, ungeschliffener, dummer, mitunter roher Bauernjunge eine solche Liebe zu erwecken fähig war!«

      Eines Nachts stand es mit dem Kinde besonders schlimm. Gegen zwei Uhr kam Herr von Rênal, um nach ihm zu sehen. Der Knabe lag in hohem Fieber, sah scharlachrot aus und erkannte den Vater nicht. Da warf sich Frau von Rênal ihrem Manne plötzlich zu Füßen. Julian, der mit bei dem Kinde wachte, sah sofort, dass sie alles gestehen wollte: zu ihrem ewigen Verderben. Zum Glück missfiel dem Hausherrn dies seltsame Gebaren.

      »Auf Wiedersehen! Auf Wiedersehen!« sagte er und schickte sich an zu gehen.

      »Ach, höre mich doch an!« rief sie, noch immer auf den Knien.

      »Du sollst alles wahrheitsgetreu erfahren. Ich bin die Mörderin deines Sohnes! Ich, die ich ihm das Leben gegeben, ich nehme es ihm. Das ist die Strafe des Himmels. Vor Gott bin ich Mörderin. Ich muss mich selber verderben und demütigen. Vielleicht macht diese Sühne den lieben Gott gnädig …«

      Hätte Herr von Rênal genug Einbildungskraft besessen, so hätte er den Sinn dieser Worte verstanden.

      »Überspannter Blödsinn!« brummte er und wehrte seine Frau ab, die seine Knie zu umarmen suchte. »Überspannter Blödsinn! Genug! Julian, lassen Sie bei Tagesanbruch den Doktor holen!«

      Damit entfernte er sich, um sich wieder zu Bett zu legen. Julian versuchte Frau von Rênal aufzurichten. Halb von Sinnen, fiel sie von neuem auf die Knie und stieß ihn mit einer krampfhaften Bewegung von sich.

      Julian stand voll Erstaunen da.

      »So ist also der Ehebruch!« dachte er bei sich. »Am Ende haben die Pfaffen, diese Halunken, die selber die größten Sünder sind, das Vorrecht, das innere Triebwerk der Sünde am besten zu kennen? Seltsam!«

      Herr von Rênal war schon eine Viertelstunde aus dem Zimmer, und noch immer sah Julian die geliebte Frau, ihr Haupt an das Bett des Kindes gelehnt, unbeweglich und ohne rechte Besinnung auf dem Teppich liegen. »Das ist keine Durchschnittsfrau, die zugrunde gehen will, weil sie Ehebrecherin ist!« sagte er sich.

      Eine Stunde nach der andern verging. Julian grübelte darüber nach: »Was kann ich für sie tun? Ich muss einen Entschluss fassen. Hier handelt es sich nicht mehr um mich. Was gehen mich die Leute an und ihre Narrenspossen? Was kann ich für sie tun? Sie verlassen? Nein, dann ist sie einsam und allein mit ihrer grässlichen Herzensnot. Dieser Automat von Mann schadet ihr eher, als dass er ihr hilft. Grob, wie er ist, wird er ihr harte Worte sagen. Sie kann verrückt werden und sich zum Fenster hinunterstürzen. Wenn ich sie verlasse, wenn ich nicht mehr über sie wache, wird sie ihm alles gestehen. Wer weiß, ob er nicht trotz der Erbschaft, die sie ihm einbringen soll, doch Skandal macht? Auch könnte sie diesem gottverdammten Abbé Maslon beichten. Er benutzt die Krankheit eines sechsjährigen kleinen Jungen, um sich hier im Hause einzunisten. Dabei hat er natürlich seine Absichten. In ihrem Schmerz und aus Furcht vor Gott vergisst sie alles, was sie über diesen Menschen Übles weiß. Sie sieht in ihm nur den Priester …«

      »Geh! Geh!« rief in diesem Augenblick Frau von Rênal, indem sie die Augen aufschlug.

      »Tausendmal gebe ich mein Leben hin«, beteuerte Julian, »wenn man mir dafür sagt, was für dich das beste ist! Ich liebe dich mehr denn je, mein Engel, meine Fee. Glaube mir, erst in dieser Stunde beginne ich dich so anzubeten, wie du es verdienst! Was soll aus mir werden, wenn ich, dir fern, immer daran denken muss, du seiest unglücklich durch mich? Aber was gilt mein Leid? Ich will ja gehen, Geliebteste. Ach, wenn ich dich verlassen habe, wenn ich nicht mehr über dich wache und nicht mehr zwischen dir und deinem Manne stehe, dann wirst du ihm alles sagen und dich zugrunde richten. Denke daran, dass er dich mit Schimpf und Schande aus seinem Hause jagen wird! Ganz Verrières, ganz Besançon wird von diesem Skandale reden. Man wird dir alles in die Schuhe schieben, und nie wirst du diese Schmach überwinden können …«

      »Das will ich ja gerade!« unterbrach sie ihn fast schreiend, indem sie sich aufrichtete. »Wenn ich leide, umso besser!«

      »Durch solch einen schauderhaften Skandal bringst du auch deinen Mann ins Unglück!«

      »Was geht mich das an? Wenn ich mich selbst erniedrige, mich in den Staub werfe, so rette ich vielleicht mein Kind. Demütigung vor aller Augen ist für mich vielleicht die rechte Buße. Wäre das nicht, soweit ich mich in meiner Schwachheit zu verstehen vermag, das größte Opfer, das ich Gott bringen kann? Vielleicht nimmt er meine Selbsterniedrigung gnädig an und lässt mir meinen Sohn. Zeige mir eine andre schwere Sühne! Ich will mich ihrer auf der Stelle unterziehen.«

      »Lass mich die Strafe tragen!« bat Julian. »Ich bin der Mitschuldige. Sag, soll ich in das Trappistenkloster gehen? Das strenge Leben dort wird deinen Gott versöhnen … Allmächtiger, warum kann ich nicht des Kindes Krankheit auf mich nehmen!«

      »Du liebst ihn, du!« rief Frau von Rênal. Sie sprang auf und fiel Julian um den Hals. Aber schon im nämlichen Augenblick stieß sie ihn voll Abscheu wieder von sich. »Ich glaub es dir! Ich glaub es dir!«

      Von neuem sank sie zu Boden. »Einzigster Freund! Warum bist nicht du der Vater meines Stanislaus! Dann wäre es keine schreckliche Sünde, dich mehr zu lieben als deinen Sohn!«

      »Willst du mir erlauben, dass ich hierbleibe und dich fortan liebe wie ein Bruder seine Schwester? Wäre das nicht die allervernünftigste Sühne? Das muss Gottes Grimm besänftigen!«

      »Ich!« rief sie aus, indem sie abermals aufstand, Julians Kopf in ihre Hände nahm und ihn dicht vor ihre Augen hielt. »Ich soll dich wie einen Bruder lieben? Vermag ein Weib den Geliebten zu ihrem Bruder zu machen? Ich kann es nicht!«

      Julian brach in Tränen aus.

      »Ich werde dir gehorchen«, gelobte er und fiel ihr zu Füßen. »Ich werde gehorsam tun, was du mir auch befiehlst. Das ist alles, was ich noch tun kann. Mein Geist ist mit Blindheit geschlagen. Ich sehe nirgends einen Ausweg. Wenn ich dich verlasse, gestehst du deinem Manne alles. Dann bist du verloren und er auch. Nach dieser Blamage wird er niemals Abgeordneter. Bleibe ich aber, so hältst du mich für die Ursache, falls dein Kind stirbt. Und du stirbst vor Gram auch. Willst du erproben, wie es ist, wenn ich dich verlasse? Willst du, dass ich auf acht Tage fortgehe? Es soll eine Strafe meiner Sünde sein. Ich werde diese Zeit in der Abtei Hohen-Bray verbringen oder wo du willst. Aber schwöre mir, dass du während meiner Abwesenheit deinem Manne nichts eingestehst! Bedenke, dass ich dann nie wieder hierherkommen könnte!«

      Frau von Rênal versprach es, und Julian reiste ab. Aber bereits nach zwei Tagen ward er zurückgerufen.

      »Es ist mir unmöglich«, erklärte sie ihm, »meinen Eid zu halten, wenn du nicht immer bei mir bist. Wenn mir deine Augen nicht Stillschweigen gebieten, sag ich meinem Manne am Ende alles. Jede einzelne Stunde dieses abscheulichen Lebens kommt mir vor wie ein ganzer Tag.«

      Endlich hatte der Himmel Erbarmen mit der unglücklichen Mutter. Bald war Stanislaus außer Gefahr. Aber damit war nicht alles beim alten. Frau von Rênal waren die Augen vor ihrer eigenen Sünde aufgegangen. Ihre innere Harmonie war dahin. Ihre Gewissensnot dauerte an; sie wuchs, wie das in einem so lauteren Gemüt nicht anders sein konnte. Ihr Dasein war Himmel und Hölle zugleich: Hölle, wenn sie Julian nicht sah, und Himmel, wenn sie zu seinen Füßen saß. Selbst in den Augenblicken, wo sie sich ganz in ihrer Leidenschaft verlor, sagte sie oft: »Ich mache mir keine Hoffnung mehr. Ich bin verdammt. Rettungslos verdammt. Du bist jung. Du hast meiner Verführung gewillfahrt. Dir kann der Himmel wohl verzeihen. Aber ich bin verloren. Ich erkenne das an einem untrüglichen Zeichen. Ich habe Angst.