»Monsignore«, sagte Julian, »wenn Eure Eminenz es gestatten, werde ich die Mitra holen.«
Julians schöne Augen taten das ihre.
»Tun Sie es, Herr Abbé!« antwortete der Bischof voll liebenswürdiger Artigkeit. »Ich muss sie sofort haben. Ich bin untröstlich, dass ich die Herren vom Kapitel warten lasse.«
Als Julian in der Mitte des Saales war, drehte er sich nach dem Bischof um und sah, dass er wieder beim Segnen war. »Was soll das?« fragte er sich. »Ohne Zweifel ist das eine Vorbereitung für die in Aussicht stehende Feierlichkeit.«
Beim Eintritt in die Zelle, in der sich die Diener aufhielten, bemerkte er die Mitra in ihren Händen. Widerwillig fügten sie sich dem Herrenblicke Julians und reichten ihm die Bischofsmütze.
Julian war stolz, dass er sie bringen durfte. Als er den Saal wieder durchquerte, ging er ganz langsam. Er trug sie voll frommer Scheu. Der Bischof hatte sich gesetzt, und zwar vor den Spiegel. Seine Rechte war müde geworden, aber hin und wieder teilte sie immer noch den Segen aus. Julian half ihm die Mitra aufsetzen. Sodann schüttelte der Bischof mehrmals mit dem Kopfe.
»So! Jetzt sitzt sie!« meinte er in zufriedenem Ton zu Julian. »Wollen Sie einmal ein wenig zur Seite gehen?«
Mit raschen Schritten ging er in die Mitte des Saales. Dann schritt er langsamen Ganges wieder auf den Spiegel zu, zog sein grämliches Gesicht von vorhin und erteilte würdevoll den Segen.
Julian rührte sich nicht vor Staunen. Er ahnte den Sinn des Vorganges, traute aber seiner Vermutung nicht recht. Der Bischof blieb stehen und schaute ihn an. Sein Gesicht verlor rasch den Ausdruck der Würde.
»Was sagen Sie zu meiner Mitra?« fragte er Julian. »Sitzt sie gut?«
»Sehr gut, Monsignore!«
»Sitzt sie nicht zu weit nach hinten? Das sähe töricht aus. Hinwiederum darf man sie auch nicht zu tief ins Gesicht drücken wie einen Offizierstschako.«
»Meiner Meinung nach sitzt sie vorzüglich!« wiederholte Julian.
»Majestät ist ehrwürdige und unbedingt ernste Geistliche gewöhnt. Ich möchte nicht kokett aussehen; gerade, weil ich jung bin, nicht.«
Dabei setzte sich der Kirchenfürst von neuem in Bewegung, wiederum Segen spendend.
»Es ist klar«, sagte sich Julian, der endlich zu verstehen wagte. »Er übt sich im Segnen.«
Nach einigen Augenblicken erklärte der Bischof: »Ich bin fertig. Gehen Sie voran, Herr Abbé, und geben Sie dem Herrn Dekan und den Herren vom Kapitel Bescheid!«
Alsbald trat der alte Chélan, gefolgt von den beiden nächstältesten Pfarrern, durch eine große, prächtig geschnitzte Pforte ein, die Julian bisher nicht bemerkt hatte. Seinem Rang entsprechend schloss er sich dem in den Saal dringenden Schwarm der Geistlichkeit als Allerletzter an und konnte den Bischof nur noch über die Schultern der andern sehen.
Der Bischof schritt ihnen langsam entgegen. Jetzt traten die Geistlichen zur Prozession an. Einen Augenblick lief alles durcheinander. Dann setzte sich der Zug unter Anstimmung eines Psalms in Bewegung. Der Bischof, zwischen dem Pfarrer Chélan und einem andern älteren Geistlichen, folgte dem Klerus. Dicht hinter dem Bischof schritt Julian als Subdiakon Chélans. Der Zug ging durch die langen Gänge der Abtei, die trotz des einfallenden Sonnenscheins düster und dumpfig waren. Endlich erreichte man die Vorhalle des Kreuzgangs.
Julian war tief ergriffen von der schönen Feier. Sein angesichts des jugendlichen Kirchenfürsten von neuem lodernder fantastischer Ehrgeiz und das feine vornehme Wesen des Kardinals stritten sich um sein Herz. Solche Urbanität war doch etwas andres als die Leutseligkeit des Herrn von Rênal, selbst wenn er seinen guten Tag hat. »Je höher man die Stufenleiter der Gesellschaft emporsteigt, desto mehr findet man so entzückende Manieren«, sagte sich Julian.
Die Prozession zog durch ein Seitenportal in die Kirche. Plötzlich durchhallte das altertümliche Gewölbe ein fürchterlicher Lärm. Julian wähnte, es stürze ein. Wiederum war es die alte Kanone, die draußen, von acht Pferden gezogen, eben im Galopp in Stellung gegangen war und auch schon durch die Kanoniere von Leipzig abgeprotzt worden war. Sie gab ihre fünf Schuss in der Minute ab, als stünden drüben die Preußen.
Der wunderschöne Salutdonner machte aber keinen Eindruck mehr auf Julian. Napoleon und Soldatenruhm waren vergessen. »So jung!« schwärmte er. »Und schon Bischof von *******! Was mag ihm die Stelle einbringen? Wohl zwei- oder dreimal hunderttausend Franken!«
Die Lakaien des Bischofs erschienen mit einem prachtvollen Thronhimmel. Der Pfarrer Chélan ergriff eine der Tragestangen, aber in Wahrheit war Julian der Träger. Der Bischof stellte sich darunter. Es war ihm wirklich gelungen, alt auszusehen. Julians Bewunderung kannte keine Grenzen mehr. Was bringt man mit Geschicklichkeit nicht alles fertig! dachte er.
Der König trat ein. Julian hatte das Glück, ihn ganz aus der Nähe betrachten zu können. Der Kirchenfürst hielt eine weihevolle Ansprache, wobei er nicht vergaß, einen Anflug ehrfürchtiger Befangenheit vor der Majestät zu simulieren. Aus der Rede des Bischofs erfuhr Julian unter anderem, dass der König von Karl dem Kühnen abstammte.
Eine genaue Schilderung der Hohen-Brayer Feierlichkeit ist nicht vonnöten. Vierzehn Tage lang waren die Spalten der sämtlichen Provinzzeitungen voll davon. Julian hatte später die Kostenberechnung des ganzen Empfanges aufzustellen. Der Marquis von La Mole, der seinem Neffen das Bistum verschafft hatte, erwies ihm obendrein die Höflichkeit, sämtliche Kosten der kirchlichen Zeremonie zu bestreiten, die allein dreitausendachthundert Franken betrugen.
Nach der Rede des Bischofs und den Erwiderungsworten des Königs trat Seine Majestät unter den Thronhimmel und kniete andachtsvoll auf einem Kissen nahe dem Altar nieder. Rings im Chor standen Lehnstühle, zwei Stufen über den Steinfliesen. Auf der untersten Stufe nahm Julian Platz, zu Chélans Füßen, wie in der Sixtinischen Kapelle in Rom die Schleppenträger der Kardinale. Das Tedeum begann. Qualmende Weihrauchfässer wurden geschwenkt. Und draußen donnerten schier endlose Kanonen- und Flintenschüsse. Die Bauern waren trunken vor Frömmigkeit und Überschwang. Ein solcher Tag macht die Wühlerei von hundert Nummern der sozialistischen Zeitungen zunichte.
Julian stand sechs Schritte vom König entfernt, der wirklich mit Andacht betete. Zum ersten Mal fiel sein Blick auf einen kleinen Herrn mit klugen Augen, dessen Rock beinahe unbestickt war. Als einzigen Schmuck trug er ein breites himmelblaues Ordensband über der Brust. Der so einfach Gekleidete stand näher bei Seiner Majestät als die meisten andern Herren, deren Röcke derart von Gold strotzten, dass Julian kaum das Tuch zu erblicken vermeinte. Ein paar Augenblicke später erfuhr er, dass dies Herr von La Mole war. Es schien ihm, als habe der Marquis ein hochmütiges, fast arrogantes Aussehen.
»Dieser Grandseigneur«, dachte Julian, »ist gewiss nicht so urban wie mein koketter Bischof. Ja, der geistliche Stand macht mild und weise … Der König ist doch gekommen, um die Reliquie anzubeten. Ich sehe aber keine. Wo steckt denn der heilige Clemens?«
Sein Nachbar, ein Chorknabe, belehrte ihn, dass sich die heilige Reliquie in einem erleuchteten Katafalk befände, in einem höher gelegenen Räume des Gebäudes.
»Was ist das«, fragte sich Julian, »ein erleuchteter Katafalk?« Er mochte nicht danach fragen; nur seine Neugier ward umso größer.
Wenn ein regierender Fürst eine Reliquie besucht, so will es die Etikette, dass die Geistlichen den Bischof nicht begleiten. Als man sich nach dem Katafalk zu gehen anschickte, winkte der Bischof demungeachtet den alten Chélan heran. Julian wagte sich anzuschließen.
Es ging eine lange Treppe hinauf, bis man vor eine auffallend kleine Tür gelangte, deren gotischer Zierrat prunkvoll vergoldet war. Die Vergoldung war offenbar neu. An dieser Tür knieten vierundzwanzig junge Mädchen aus den besten Familien von Verrières. Ehe der Bischof durch die Tür schritt, kniete er mitten unter den Jungfrauen nieder. Es waren lauter hübsche Mädchen. Während er mit