Plötzlich tat sich die kleine Pforte auf. Eine Flut von Licht drang aus der kleinen Kapelle. Drinnen auf dem Altar brannten mehr denn tausend Kerzen, zu acht Reihen geordnet; dazwischen standen Blumensträuße. Der süße Duft reinsten Weihrauchs drang aus dem Heiligtum. Die Kapelle, deren Vergoldung man erneuert hatte, war ziemlich klein, aber hoch. Julian schätzte die Kerzen auf dem Altar höher als zwei Meter. Die jungen Mädchen wurden zu einem Schrei der Bewunderung hingerissen. Außer den vierundzwanzig Jungfrauen befanden sich im Vorraum der Kapelle nur die beiden Priester und ihr Gefolgsmann.
Alsbald erschien Seine Majestät, nur vom Marquis von La Mole und seinem Oberhofmarschall begleitet. Alle andern, selbst die Ehrenwache unter präsentiertem Gewehr, blieben draußen auf den Knien.
Der König sank, oder vielmehr er stürzte in den Betstuhl. In diesem Moment erblickte Julian, der dicht an der goldnen Pforte kniete, über den bloßen Arm eines der jungen Mädchen hinweg den schimmernden Leib des heiligen Clemens. In der Tracht eines jungen römischen Kriegers lag er unter dem Altar. Am Hals hatte er eine weite Wunde, aus der Blut zu tropfen schien. Der Verfertiger der Statue war ein großer Realist. Die halbgeschlossenen, brechenden Augen des Heiligen leuchteten in überirdischem Glanz, ein keimendes Bärtchen schmückte seinen schönen Mund, der, ein wenig geöffnet, aussah, als flüstere er ein letztes Gebet. Bei diesem Anblick begann eine der Jungfrauen, Julians Nachbarin, zu weinen, und eine ihrer Tränen fiel ihm auf die Hand.
Einen Augenblick betete alles in tiefstem Schweigen, das nur durch das ferne Glockengeläut aus allen Dörfern in der Runde unterbrochen wurde. Danach bat der Bischof den König, seine Predigt beginnen zu dürfen. Es war eine kurze, sehr rührsame Rede, die mit ein paar schlichten Worten schloss, die starken Eindruck machten.
»Junge Christinnen, vergesst nie, dass ihr einen der größten Könige der Erde vor einem Diener Gottes des Allmächtigen auf den Knien erblickt habt, vor einem jener schwachen Diener des Herrn, die hienieden verfolgt und gemordet worden, jetzt aber triumphierend an Gottes Thron sitzen. Einer von ihnen ist der heilige Clemens, dessen Wunde ihr hier bluten seht! Gelobt mir, meine jungen Christinnen, nie in eurem Leben dieses Tages zu vergessen! Ihr werdet den Unglauben verabscheuen und immerdar treu bleiben dem Herrn, dessen Rache so fürchterlich und dessen Güte so groß ist.«
Der Bischof richtete sich würdevoll auf.
»Nicht wahr, ihr gelobt es mir?« fuhr er fort, indem er die Rechte erhob und wie in gottseliger Weihe ausstreckte.
»Wir geloben es!« lispelten die jungen Mädchen, in Tränen zerfließend.
»Im Namen Gottes des Herrn«, schloss der Prälat mit Donnerstimme, »nehme ich euer Gelübde an.«
Damit war die Feierlichkeit zu Ende. Selbst der König weinte.
Erst lange nachher kam Julian soweit zur Besinnung, dass er sich erkundigte, wo denn eigentlich die Gebeine wären, die Philipp der Großmütige, Herzog von Burgund, aus Rom mitgebracht hatte. Man sagte ihm, sie seien in der schönen Wachsfigur eingeschlossen.
Seine Majestät geruhte, den jungen Mädchen, die ihn in die Kapelle begleitet hatten, das Tragen eines roten Bandes mit der eingestickten Devise:
Der Marquis von La Mole ließ zehntausend Flaschen Wein unter die Bauern verteilen. Die Liberalen benutzten den Anlass, abends hundertmal schöner zu illuminieren als die Royalisten. Vor seiner Abfahrt stattete der König Herrn von Moirod einen Besuch ab.
19. Kapitel
Als sich Julian in dem Zimmer umsah, das der Marquis von La Mole innegehabt hatte, fand er einen viermal gebrochenen Bogen starken Kanzleipapiers, auf dessen erster Seite folgendes zu lesen war:
An den
Kammerherrn Seiner Majestät des Königs, Pair von Frankreich,
Ritter höchster Orden,
Herrn Marquis von La Mole,
Exzellenz.
Es war ein Bittgesuch in ungelenker Köchinnenhandschrift:
Hochwohlgeborener Herr Marquis!
Ich habe mein Leben lang religiöse Grundsätze gehabt, ich war in Laon zur Zeit der Belagerung, 1793 schrecklichen Angedenkens, unter den Bomben der Jakobiner. Ich gehe zur Kommunion und jeden Sonntag zur Messe in die Pfarrkirche. Ich habe nie meine Osterpflicht versäumt, selbst nicht im Jahre 1793 schrecklichen Angedenkens. Meine Köchin, nur vor der Revolution hielt ich mir Diener, meine Köchin kocht jeden Freitag Fastenspeisen. Ich erfreue mich in Verrières der allgemeinen und, ich darf wohl sagen; verdienten Achtung. Ich gehe bei Prozessionen unter dem Baldachin, neben Herrn Pfarrer und neben Herrn Bürgermeister. Ich trage an den hoben Festen eine große Kerze auf meine eigenen Kosten. Über alles das liegen amtlich beglaubigte Bescheinigungen in Paris im Königlichen Ministerium des Innern. Eure Exzellenz bitte ich untertänigst um die Lotteriekollektion zu Verrières, die auf die oder jene Weise demnächst frei werden dürfte, da der jetzige Inhaber sehr krank ist und überdies bei den Wahlen schlecht stimmt … usw.
Auf der freien Hälfte der Bittschrift stand, von Moirod unterzeichnet, folgende Befürwortung:
Eurer Exzellenz beehre ich mich im Anschluss an das gestern mündlich Vorgebrachte den Gesuchsteller nochmals als guten Untertanen ganz gehorsamst zu empfehlen … usw.
Nachdenklich sagte sich Julian: »Also, sogar ein Schwachkopf wie dieser Cholin zeigt einem, wie man es machen muss!«
Noch acht Tage nach der Durchreise des Königs hielt in Verrières eine Tatsache alle Gemüter mehr in Spannung als die unzähligen Lügen, einfältigen Auslegungen und lächerlichen Erörterungen, die der Reihe nach dem Landesherrn, dem Bischof von *******, dem Marquis von La Mole, den zehntausend Flaschen Wein und dem Herunterfall des armen Moirod gewidmet wurden. (Letzterer ließ sich übrigens erst vier Wochen nach seinem Malheur wieder vor der Öffentlichkeit blicken.) Dies war die unerhörte Taktlosigkeit, dass Julian Sorel, der Müllerssohn, in die Ehrenwache hineinbugsiert worden war. Über dieses Thema musste man die reichen Bunte-Leinwand-Fabrikanten hören, die sich von früh bis abends im Kaffeehaus über die soziale Gleichheit heiser redeten. Da hieß es, die eingebildete Frau Bürgermeister sei die Anstifterin dieser Schandtat. In den schönen Augen und den roten Backen des Herrn Hauslehrers habe man den nötigen Kommentar.
Kurz nach der Rückkehr nach Vergy bekam Stanislaus-Xaver, der jüngste Knabe, Fieber. Frau von Rênal ward von grässlichen Gewissensbissen befallen. Zum ersten Mal machte sie sich ob ihrer Liebe alle möglichen Vorwürfe. Wie durch ein Wunder gingen ihr plötzlich die Augen auf. Sie erkannte die ganze Größe der Schuld, zu der sie sich hatte verführen lassen. Trotz ihrer tiefen Religiosität war es ihr bisher nicht zum Bewusstsein gekommen, dass sie vor Gott ungeheuerlich gesündigt hatte.
Einstmals, im Herz-Jesu-Kloster, hatte sie Gott inbrünstig geliebt. Jetzt empfand sie im gleichen Maße Furcht vor ihm. Die Kämpfe, die in ihrer Seele entbrannten, waren umso schrecklicher, als sie vor Angst der Vernunft kein Gehör schenkte. Julian sah, dass er die arme Frau nicht beruhigte, sondern nur quälte, wenn er ihr vom Standpunkt des gesunden Menschenverstandes zuredete. Seine Worte klangen ihr wie Einflüsterungen der Hölle.
Da Julian den kleinen Stanislaus in sein Herz geschlossen hatte, so sprach er selber schließlich in einem fort von der Krankheit, die mehr und mehr einen ernsten Charakter annahm. Die fortwährende Gewissenspein brachte die Mutter um jedweden Schlaf. Sie wurde schweigsam und grüblerisch. Hätte sie den Mund aufgetan, so wäre es nur gewesen, um sich vor Gott und den Menschen anzuklagen.
»Ich beschwöre dich«, bat Julian, sobald sie allein waren, »sprich zu niemandem! Lass mich den einzigen Vertrauten deines Leids sein! Wenn du mich noch liebhast, dann rede nicht! Geständnisse machen unsern Stanislaus nicht fieberfrei.«
Sein Zuspruch hatte keine Wirkung. Allerdings wusste Julian nicht, dass sich Frau von Rênal in den Kopf gesetzt hatte,