»Warum tust du das? Warum willst du dich um mich kümmern? Ich habe dich doch, weiß Gott, sehr schlecht behandelt, war gemein zu dir. Du müsstest mich doch hassen und jetzt … glücklich sein, weil es mir so dreckig geht.«
Du liebe Güte!
Wohin verirrten Grits Gedanken sich denn da?
Bettina schüttelte den Kopf.
»Eigentlich müsstest du mich doch besser kennen. Rachsucht ist kein gutes Lebensmotto. Dieses Auge um Auge, Zahn um Zahn erzeugt nur negative Energie. Du bist meine Schwester, und ich habe trotz allem nie aufgehört, dich als meine Schwester zu … lieben.«
Grit schossen Tränen in die Augen.
»Das … das habe ich … nicht … verdient«, stammelte sie ergriffen.
»Doch«, widersprach Bettina, »wozu ist eine Familie schließlich da.«
»Ich … ich kann doch gar nicht bleiben«, wandte Grit ein, »ich habe nichts zum Anziehen, keine Kosmetik.«
Bettina lachte.
»Also, eine neue Zahnbürste kannst du schon mal von mir haben, frische Wäsche habe ich auch für dich, gewiss nicht so was Exquisites wie das, was du sonst trägst, und T-Shirts habe ich en masse in meinem Schrank, da hast du die freie Wahl, und morgen machen die Geschäfte wieder auf, da kannst du bis zum Umfallen shoppen, wenngleich ich dir sagen muss, dass du das alles hier auf dem Hof nicht brauchst. Wir können lange Spaziergänge machen, auf dem See rudern oder segeln, wenn es ein bisschen Wind gibt.«
»Wie früher mit Papa«, erwiderte Grit.
»Ja«, bestätigte Bettina, »erinnerst du dich, welchen Spaß wir immer hatten … Merit und Niels sind auch ganz verrückt danach.«
Das hätte Bettina wohl besser nicht erwähnt. Sofort verfinsterte sich Grits Gesichtsausdruck, ihre Augen füllten sich erneut mit Tränen.
Wie unachtsam sie doch gewesen war, verwünschte Bettina sich. Aber nun war es zu spät, sie hätte vorher darüber nachdenken müssen.
»Grit, mit Merit und Niels kommt auch alles wieder in Ordnung, ganz bestimmt.«
Grit blickte ihre Schwester an, mit einem so traurigen Gesichtsausdruck, dass Bettina sie am liebsten sofort wieder in die Arme genommen hätte.
»Wie denn«, murmelte sie, »sie wollen nicht einmal mit mir telefonieren, sie haben ihren Vater, und diese … diese …«, sie verschluckte das russische Schlampe – wie sie Irina immer nannte, und fuhr stattdessen fort: »Holgers neue Frau.«
»Grit, Irina ist sehr, sehr nett, und den Kindern hätte nichts Besseres passieren können. Aber dennoch, du bist ihre Mutter, und sie werden den Weg zu dir schon wieder finden … Dass euer Verhältnis so angespannt ist, daran bist du nicht ganz unschuldig.«
»Ich weiß, Bettina, und wenn ich könnte, würde ich alles sehr gern rückgängig machen. Alles …, dann wäre ich noch mit Holger verheiratet, meine Kinder wären bei mir …, wir wären eine glückliche Familie. Aber dieser Zug ist für mich abgefahren, durch mein eigenes Verschulden. Und wofür? Wofür habe ich das alles aufgegeben? Für ein bisschen Spaß im Bett. Auch wenn man zusammen den Matratzenmambo tanzt, bedeutet das noch lange nicht, dass man liebt, geliebt wird, mit jemandem fest liiert ist.«
Trotz der Ernsthaftigkeit der Angelegenheit hätte Bettina jetzt am liebsten laut gelacht – Matratzenmambo, das hatte sie ja noch nie gehört! Aber es stimmte, für eine Affäre hatte Grit alles aufgegeben, eine Affäre, die ihr nur Stress bereitet und die sie sehr viel Geld gekostet hatte.
»Grit, zieh einen Schluss-Strich, quäle dich nicht länger. Lass es gehen. Die traurige Erfahrung mit … Robertino musst du verarbeiten, nicht verdrängen, sonst hängt sie dir noch ewig nach. Und an deiner Beziehung, einem neuen Anfang mit deinen Kindern, kannst du arbeiten. Merit und Niels sind ganz wunderbar, wenn sie merken, dass du dich ernsthaft um sie bemühst, werden sie sich dir auch wieder zuwenden, du bist ihre Mutter, und früher hattet ihr doch ein tolles Verhältnis zueinander.«
Grit lachte bitter auf.
»Früher …, früher hatten wir auch noch einen Kaiser … Ich weiß nicht, wie ich mich verhalten soll. Ich habe doch alles Vertrauen verspielt.«
»Das kann man wieder aufbauen, aber dazu musst du selbst erst mal stabil sein. Bleib hier, hier kannst du Kraft tanken und die Seele baumeln lassen, wenn die sich erst mal wieder erholt hat. Und ich … Grit, es würde mich wirklich sehr freuen, wenn du für eine Weile hier auf dem Hof bliebest … Schau mal, irgend etwas in deinem Unterbewusstsein hat dich doch hierhergezogen, sonst wärst du nicht hier.«
Das stimmte!
Grit seufzte abgrundtief auf.
»Also, wenn ich dir wirklich nicht auf die Senkel gehe, dann bleibe ich …, wenigstens erst mal bis morgen.«
Bettina atmete erleichtert auf. Das war doch schon mal eine Aussage, sie hätte Grit unmöglich in dieser Verfassung fahren lassen können, einmal abgesehen von dem Restalkohol, der noch in ihr war. Aus dem morgen konnte leicht ein übermorgen werden, und aus dem übermorgen ein überübermorgen. Grit versäumte schließlich nichts daheim. Und vielleicht würde sie sich öffnen und erzählen, was sie so sehr aus der Bahn geworfen hatte.
Arme Grit!
In deren Haut wollte Bettina wirklich nicht stecken. Der Katzenjammer, den sie ihr vorausgesagt hatte, war eingetreten, aber das ließ Bettina wirklich nicht triumphieren. Sie würde ihre Schwester lieber glücklich sehen. Das mit Merit und Niels würde sich hinbiegen lassen, dessen war sie sich sicher. Doch Holger, den würde sie nicht zurückbekommen, der war mit Irina glücklich, und dieses Glück hatte er auch verdient. Er hatte sehr unter Grits Verhalten gelitten und lange um sie gekämpft.
»Jetzt will ich mich aber erst mal gründlich duschen, ich habe das Gefühl zu stinken wie ein Bierkutscher.«
»Ich schlage dir ein Wannenbad vor«, sagte Bettina, »ich habe ganz wunderbare Essenzen … Was also hältst du von einem …, nun, sagen wir mal … Rosenbad?«
»Eine gute Idee … Danke, Bettina, du bemühst dich so sehr um mich. Das habe ich gar nicht verdient.«
»Doch, hast du.«
Bettina stand auf.
»Ich lass rasch das Badewasser in die Wanne, und wir können derweil meinen Kleiderschrank inspizieren, auch wenn ich keine Designerklamotten trage wie du, bin ich mir doch sicher, dass wir etwas Passendes für dich finden werden.«
Bettina wirbelte durchs Zimmer, an der Tür drehte sie sich noch einmal um.
»Grit, es ist schön, dass du hier bist«, sagte sie, und das meinte sie auch so.
*
Grit weilte nun schon einige Tage auf dem Fahrenbach-Hof, und obschon mittlerweile der Alltag da war und somit die Geschäfte offen, hatte sie keine Lust auf eine Shoppingtour, sondern begnügte sich mit Sachen aus Bettinas Beständen.
Bettina war von Natur aus sehr schlank, sie hatte die Gene der Fahrenbachs geerbt, die allesamt hochgewachsen, und schlank gewesen waren, ihr Vater auch, während
Grit sich ihre Schlankheit erhungert hatte. Sie war dünner und knochiger als Bettina, aber zwei, drei Hosen passten Grit doch, Dank der Gummizüge in der Taille, und mit den T-Shirts gab es keine Probleme. Aber es war schon komisch, Grit so leger gekleidet zu sehen, Bettina hatte ihre Schwester in Erinnerung in knappen Kostümchen und High Heels, sorgsam zurechtgemacht. Jetzt war sie überhaupt nicht geschminkt, und die Haare hatte sie mit einem Gummibändchen zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden.
Grit legte überhaupt keinen Wert auf ihr Äußeres, doch Bettina hatte merkwürdigerweise nicht den Eindruck, dass sie sich aufgegeben hatte, sich nicht wohl fühlte. Der äußere Schein war bei ihr für den Moment in den Hintergrund getreten.
Sie hatten lange Spaziergänge gemacht.