Bald zog den Reißverschluss der Sporttasche auf und holte die Smith&Wesson zusammen mit der Schachtel Munition heraus. Antonia sah zu ihm hinüber und fragte: »Was tun Sie da?«
Er legte sich die Munitionsschachtel in den Schoß und drückte auf den Entriegelungshebel an der Seite der Waffe. Dann drückte er mit dem rechten Daumen die Trommel heraus. Er nahm eine Patrone aus der Schachtel und lud sie in die erste Kammer. Die .38er Specials waren die treuen Gefährten unter den Patronen. Smith&Wesson produzierte die Specials seit 1898, und sie waren in beinahe jedem Krieg verwendet worden, der seitdem geführt wurde. Antonia mochte eine fragwürdige Wahl bei ihrer Pistole getroffen haben, aber das wurde damit wettgemacht, dass die Waffe, die sie ihm gegeben hatte, auf derart verlässliche und tödliche Kugeln setzte. Diese Revolver bestachen durch eine wundervolle Einfachheit. Wenige bewegliche Teile, keine ausgefallenen Sicherungs- oder Lademechanismen. Man musste nur die Patronen hineinstecken, den Abzug drücken, und Peng.
Bald lud die fünfte und letzte Kammer, dann ließ er den Zylinder zurückschnappen. Antonia starrte ihn mit derart weit aufgerissenen Augen an, dass sie beinahe aus ihren Höhlen fielen.
»Das ist Ihre brillante Idee? Auf Cops zu schießen?«
»Haben Sie eine bessere?«
»Die werden jeden Bundespolizisten hinter uns herschicken …«
»Ich werde bereits über der Grenze sein, bevor mich diese Wichser erwischen.«
»Und was ist mit mir?«
Der Charger überholte den Nissan. Bald strich mit der Hand über den Kolben der 637er. Die Waffe hatte nur einen Spannabzug. Man konnte also nicht einfach den Hahn spannen und dann abdrücken, sondern lud die Waffe, während man den Abzug drückte. Was bedeutete, dass die längere Bewegung des Abzugs und der Rückstoß den Schuss etwas weniger zielgenauer machen würden.
Und bei einem Schusswechsel zählte jeder Zentimeter.
Antonia nahm den Fuß vom Gas.
»Was zum Teufel machen Sie da?«, schrie Bald.
Dann sah er ihn auch.
Ein Honda Civic Type R blockierte vor ihnen die Straße.
Kapitel 15
San Hernando, Bundesstaat Hidalgo, 14:20 Uhr
Der Honda Civic Type R befand sich dreißig Yards vor ihnen. Bald schätzte den Wagen ab, so wie er alles in dieser Welt als Gefahr abschätzte. Keine Nummernschilder. Getönte Scheiben. Das drohende Bild des Dodge Chargers hinter ihnen.
»Klassisches Kidnapping-Manöver«, sagte Antonia.
»Sie glauben, dass diese Kerle das sind? Kidnapper?«
»So was passiert tausend Mal pro Jahr in diesem Land. Wenn Sie reich sind und keinen Personenschutz haben, dann sind Sie vogelfrei. Das ist definitiv ein Kidnapping-Versuch.«
Und was machst du jetzt, John?, wollte die Stimme in Balds Hinterkopf wissen. Es war die Stimme des Zweifels. Jene Stimme, die er seit seiner Rückkehr aus Belgrad mit Alkohol zu betäuben versuchte. Die Stimme, die ihm einredete, dass er sein Händchen für den Job verloren hatte.
Die beiden trennten nur noch zwanzig Yards von dem Civic. Der Charger war hinter ihren Nissan zurückgefallen und wurde langsamer. Bald schloss die Augen, dann öffnete er sie wieder. Noch fünfzehn Yards. Seine Hände scharrten über den Zylinder der 637er. Er atmete tief ein und sagte: »Stoppen Sie den Wagen.«
»Aber …«
»Tun Sie es einfach.«
Antonia fuhr an den Straßenrand. Zehn Yards vor dem Civic kamen sie zum Stehen. Zwanzig Yards von ihnen entfernt, auf drei Uhr, sah Bald eine kleine Farm. Ein bescheidenes Anwesen. Ein paar schmucklose Betonhäuser mit Wellblechdächern und einem Maisfeld, das von hölzernen Pfählen und Maschendraht eingefasst war. Ein paar magere Ziegen waren an einem Pflock festgemacht. Ein Junge und ein Mädchen spielten im Dreck. Der Junge hatte einen Springball. Das Mädchen eine Art Reifen. Der Charger hielt zehn Yards hinter ihrem Nissan.
Die Motoren erstarben. Die Kühler zischten. Der Asphalt flimmerte in der Hitze.
Ein hellhäutiger Beamter in der allgemeinen Drogenfahnder-Uniform – bestehend aus einem weißen, gebügelten Hemd, Ray-Ban-Aviators und Kampfstiefeln – stieg aus dem Charger. Der Kerl war so bleich, dass er glatt als Albino hätte durchgehen können. Aber Bleichgesicht war nicht allein. Ein zweiter Mann stieg aus der Beifahrerseite aus. Er war untersetzt und gebräunt, trug blaue Hosen, ein blaues Hemd, und eine blaue Baseballkappe. Bleichgesicht und sein Kumpel waren beide mit MP5Ks bewaffnet, die gleichen Waffen, die auch die Polizeibeamten am Flughafen getragen hatten.
Bleichgesicht näherte sich dem Nissan von links, auf Antonias Seite. Dickie kam zu Balds Seite herum. Antonias Blick wanderte von den Cops zu Bald und wieder zurück.
»Was sollen wir tun?«, fragte sie.
»Bleiben Sie verdammt noch mal ruhig sitzen.« In Gedanken spielte Bald ihre Optionen durch. Aber das war nicht so einfach. Die Migräne bohrte sich durch seinen Hinterkopf.
»Die werden uns umbringen«, sagte Antonia. Tränen stiegen ihr in die Augen.
Bald packte sie bei den Schultern und sah sie durchdringend an. »Das werden sie nicht«, sagte er sanft, aber bestimmt. Das tat er nicht aus Sympathie. Noch nicht einmal, weil es der Wahrheit entsprach. Er tat es, weil eine Braut kurz vor einem verdammten Nervenzusammenbruch das Letzte war, was er im Moment gebrauchen konnte. »Hören Sie mir zu. Tun Sie genau, was ich Ihnen sage. Wenn Sie das tun, werden wir überleben. Haben Sie mich verstanden?«
Antonia schluckte ihre Tränen hinunter, als wären sie bittere Medizin, und nickte.
»Gut«, sagte Bald.
Bleichgesicht und Dickie näherten sich dem Nissan. Aus dem Civic vor ihnen war noch niemand ausgestiegen. Es war anzunehmen, dass zumindest zwei Kerle in dem Civic als Verstärkung von Bleichgesicht und Dickie saßen. Also wenigstens vier Gegner. Fünf Kugeln im Revolver. Dazu weitere fünfunddreißig Kugeln in der Schachtel, aber es würde mindestens sieben oder acht Sekunden dauern, um den Revolver nachzuladen, und in der Hitze eines Schusswechsels würde er diese Zeit nicht haben.
Bald beobachtete Bleichgesicht im Rückspiegel. Jetzt war er bis auf vier Yards heran. Bald steckte sich die 637er vorn in seine Jeans und richtete sich in seinem Sitz auf. Dehnte seine Halsmuskeln, indem er den Kopf nach links und rechts neigte.
Bleichgesicht nahm seine Aviators ab. Seine Augen hatten die Farbe von Bleichmittel, und seine Lippen waren so schmal, dass sie wie chirurgische Schnitte aussahen. Er blieb vor Antonias Fenster stehen und klopfte gegen die Scheibe. Antonia tat nichts. Nachdrücklich klopfte er noch einmal. Dann beugte er sich etwas nach unten, damit sein Gesicht das Fenster ausfüllte.
Dickie blieb neben Balds Tür stehen. Fleischwülste wölbten sich über seinen Augen und zwängten sie zu dünnen schwarzen Schlitzen zusammen.
»Lassen Sie das Fenster herunter«, wies Bald Antonia an, die vage auf einen Punkt irgendwo vor ihnen starrte. Er versuchte, sich so gefasst und normal wie nur möglich anzuhören, um sie einigermaßen zu beruhigen. Die Fähigkeit, cool zu blieben, war bei einem Feuergefecht die halbe Miete.
Antonia drückte auf den Fensterheber an ihrer Armlehne. Die Scheibe fuhr hinunter, und die geballte Hässlichkeit beugte sich zu ihr herein. Die rechte Seite vom Kiefer des Cops war geschwollen und mit Blasen besetzt.
»Steigen Sie aus«, bellte Bleichgesicht. Speichel regnete auf Antonias Arm.
Bald nickte ihr zu. »Tun Sie, was der Mann sagt.«
Antonia