Mit Ausnahme der Augenblicke, in denen er sich von seiner Begeisterung hinreißen ließ, war er stets auf der Hut, achtete genau auf das, was sie taten, und sah ihnen alle Feinheiten ihres gesellschaftlichen Auftretens ab.
Der Umstand, daß Spencer so wenig gelesen wurde, war eine Zeitlang eine Quelle der Verwunderung für Martin. »Herbert Spencer –,« sagte der Mann in der Bibliothek, »gewiß, ein großer Geist.« Aber der Mann schien tatsächlich nicht zu wissen, welche Bedeutung der große Geist hatte. Eines Tages beim Mittagessen brachte Martin in Gegenwart Charles Butlers das Gespräch auf Spencer. Ruths Vater griff die Freidenkerei des englischen Philosophen heftig an, gestand aber, »Die ersten Grundsätze« nicht gelesen zu haben, während Charles Butler sagte, daß er sich nicht im geringsten für Spencer interessierte, nie eine Zeile von ihm gelesen hätte und ausgezeichnet ohne ihn fertig geworden wäre. Martin begann zu zweifeln, und wäre er weniger selbständig gewesen, so würde er unter dem Einfluß der allgemeinen Ansicht Herbert Spencer aufgegeben haben. Andererseits aber fand er die Erklärungen Spencers überzeugend, und ein Aufgeben Spencers war, wie er sich ausdrückte, dasselbe, wie wenn ein Seefahrer Kompaß und Chronometer über Bord werfen wollte. So ließ Martin sich denn nicht abschrecken und vertiefte sich in ein gründliches Studium der Entwicklungslehre; bald beherrschte er den Gegenstand immer mehr und schöpfte immer neue Beweise aus den bestätigenden Zeugnissen voneinander unabhängiger Autoren. Und je mehr er studierte, desto größere Ausblicke erhielt er über Wissensgebiete, die noch nicht untersucht waren, und sein Bedauern, daß der Tag nur vierundzwanzig Stunden hatte, wurde allmählich chronisch.
Eines Tages entschloß er sich daher, Algebra und Geometrie aufzugeben; mit Trigonometrie hatte er sich gar nicht erst eingelassen. Dann strich er die Chemie von seinem Studienplan und behielt nur noch die Physik.
»Ich bin kein Spezialist«, entschuldigte er sich bei Ruth. »Ich will auch nicht versuchen, Spezialist zu werden. Es gibt zu viele Spezialgebiete, als daß ein Mann in einem langen Leben auch nur ein Zehntel davon beherrschen könnte. Ich muß mich darauf beschränken, allgemeines Wissen zu sammeln; wenn ich die Arbeit von Spezialisten brauche, kann ich in ihren Büchern nachschlagen.«
»Aber das ist nicht dasselbe wie der Besitz der Kenntnisse«, wandte sie ein.
»Der Besitz ist nicht notwendig. Ich ziehe Nutzen aus der Arbeit der Spezialisten. Dafür sind sie da. Als ich kam, bemerkte ich, daß Schornsteinfeger bei Ihnen an der Arbeit waren. Das sind Spezialisten. Und wenn sie fertig sind, haben Sie saubere Schornsteine und freuen sich darüber, ohne deshalb etwas von der Konstruktion der Schornsteine zu wissen.«
»Die Erklärung scheint mir etwas gesucht.«
Sie sah ihn an, und er fühlte in ihrem Blick und ihrer Haltung einen Vorwurf. Aber er war von der Richtigkeit seines Standpunktes überzeugt.
»Alle Denker, die sich mit allgemeinen Gegenständen beschäftigen – also die größten Geister der Welt –, beziehen sich auf die Spezialisten. Auch Herbert Spencer tat das. Er zog seine Schlüsse aus dem, was Tausende von Forschern beobachtet hatten. Um alles selbst zu tun, hätte er sein Leben tausendmal leben müssen. Und ebenso ging es Darwin. Er zog Nutzen aus allem, was er von Gärtnern und Tierzüchtern gelernt hatte.«
»Sie haben recht, Martin«, sagte Olney. »Sie wissen, was Sie wollen, und das tut Ruth nicht. Sie weiß nicht einmal, was sie in bezug auf sich selber will.«
»... O doch,« fuhr Olney fort, ohne ihre Einwände zu beachten, »ich weiß, Sie nennen das allgemeine Bildung. Aber es ist ganz gleich, was man studiert, wenn man allgemeine Bildung sucht. Man kann Französisch oder Deutsch studieren, oder auch beide Sprachen lassen und Esperanto lernen, dadurch erhält man doch dasselbe Gepräge von Bildung. Zu demselben Zweck kann man Griechisch oder Latein studieren, obwohl man nicht den geringsten Nutzen davon hat. Aber es verleiht eben Bildung. Sehen Sie, Ruth hat einmal Angelsächsisch studiert und war sehr tüchtig darin – das war vor zwei Jahren, und jetzt weiß sie nichts mehr davon als diesen oder jenen Vers. Stimmt das nicht?«
»Aber deshalb hat es ihr doch ein Gepräge von Bildung verliehen«, lachte er und schnitt wieder ihre Einwände ab. »Ich weiß es. Wir besuchten dieselben Vorlesungen.«
»Sie sprechen von Bildung, als wäre sie ein Mittel, dies oder jenes zu erreichen«, rief Ruth. Ihre Augen blitzten, und sie hatte rote Flecken auf den Wangen. »Bildung ist selbst ein Ziel.«
»Aber nicht das, welches Martin sucht.«
»Woher wissen Sie das?«
»Was suchen Sie, Martin?« wandte Olney sich direkt an ihn.
Martin war sehr unbehaglich zumute; er blickte Ruth flehend an.
»Ja, was suchen Sie?« fragte Ruth. »Das ist eben das Entscheidende.«
»Selbstverständlich suche ich Bildung«, stammelte Martin. »Ich liebe alles, was schön ist, und Bildung wird mir einen edleren und lebendigeren Schönheitssinn schenken.«
Sie nickte und sah Olney triumphierend an.
»Das ist Unsinn, und das wissen Sie auch«, sagte der junge Mann. »Martin ist nach einer Karriere aus, nicht nach Bildung. Es trifft sich nur gerade, daß die Karriere für ihn Bildung bedeutet. Wollte er Chemiker werden, so brauchte er keine Bildung. Martin will schreiben, aber er fürchtet sich, es zu sagen, weil er damit beweisen würde, daß Sie unrecht haben.«
»Und warum will Martin schreiben?« fuhr er fort. »Weil er nicht im Gelde wühlt. Warum füllen Sie sich den Kopf mit Angelsächsisch und allgemeiner Bildung? Weil Sie es nicht nötig haben, sich heraufzuarbeiten. Dafür hat Ihr Vater gesorgt. Er kauft Ihnen Kleider und alles andere. Was haben wir von unserer morschen Erziehung, Sie und ich und Arthur und Norman? Wir sind von allgemeiner Bildung durchsäuert, und wenn unsere Väter heute verkrachten, würden wir morgen in einem Lehrerexamen durchfallen. Das Höchste, was Sie, Ruth, erreichen könnten, wäre eine Dorfschule oder eine Stellung als Musiklehrerin in einem Pensionat für junge Mädchen.«
»Und was würden Sie machen?« fragte sie.
»Gar nichts. Ich könnte mit meinen Händen anderthalb Dollar den Tag verdienen, könnte vielleicht Lehrer an Hanleys Presse werden – ich sage vielleicht, beachten Sie das – und würde vielleicht, ehe die Woche um ist, wegen Untauglichkeit hinausgeworfen werden.«
Martin folgte der Diskussion gespannt, und wenn er auch überzeugt war, daß Olney recht hatte, so mißbilligte er doch die etwas überlegene Art und Weise, wie er Ruth behandelte. Eine neue Auffassung von Liebe bildete sich in ihm, während er lauschte. Vernunft hatte nichts mit Liebe zu tun. Es war ganz gleichgültig, ob die Frau, die er liebte, richtig dachte oder nicht. Liebe stand über aller Vernunft. Erfaßte sie zufällig nicht richtig, wie notwendig es für ihn war, sich einen Weg in der Welt zu bahnen, so machte sie das nicht im geringsten weniger anbetungswürdig. Was sie dachte, hatte in dieser Beziehung nichts zu bedeuten.
»Wie bitte?« antwortete er auf eine Frage Olneys, die plötzlich seinen Gedankengang unterbrach.
»Ich sagte, Sie wären hoffentlich nicht so dumm, sich mit Latein abzugeben.«
»Aber Latein bedeutet mehr als Bildung«, fiel Ruth ihm ins Wort. »Es ist notwendiger Ballast.«
»Nun, so wollen Sie sich also mit Latein abgeben?« fuhr Olney fort.
Martin wußte weder ein noch aus. Er konnte sehen, daß Ruth seine Antwort mit Spannung erwartete. »Ich fürchte, daß ich keine Zeit dazu habe«, sagte er schließlich. »Ich möchte sehr gern, aber ich habe keine Zeit.«
»Sie sehen, daß es Martin nicht um Bildung zu tun ist«, triumphierte Olney. »Er