Eine heftige Neugier hatte von jeher Martin Eden beherrscht. Er suchte Wissen, und dieser Wunsch war es, der ihn abenteuernd durch die Welt getrieben hatte. Jetzt aber lernte er von Spencer etwas, das er nicht gewußt hatte, und das er nie hätte lernen können, und wenn er in alle Ewigkeit die Welt durchschweift hätte. Er war nur über die Oberfläche der Dinge hinweggeglitten, hatte losgerissene Phänomene bemerkt, Bruchstücke von Tatsachen gesammelt, kleine, oberflächliche Verallgemeinerungen gemacht – alles ohne die geringste Verbindung – in einer launischen, chaotischen Welt, in der Einfall und Zufall regierten. Den Flug der Vögel hatte er gesehen und verständnisvoll darüber geredet; nie aber war ihm eingefallen, eine Erklärung des Vorgangs zu suchen, der die Vögel als organische, fliegende Mechanismen entwickelt hatte. Nie hatte er geahnt, daß es einen solchen Vorgang gab. Nie hatte er darüber nachgedacht, daß die Vögel je entstanden waren. Sie waren eben dagewesen. Sie existierten eben.
Und wie mit den Vögeln, so mit allen anderen Dingen. Seine unwissenden, unvorbereiteten philosophischen Versuche waren fruchtlos gewesen. Die mittelalterliche Metaphysik Kants hatte ihm nicht den Schlüssel zu einer Erkenntnis geschenkt, sondern nur dazu beigetragen, ihn an seiner eigenen Intelligenz zweifeln zu lassen. Glücklicherweise war sein Versuch, die Entwicklungslehre zu studieren, auf einen hoffnungslos technischen Band von Romanes beschränkt gewesen. Er hatte nichts verstanden, und seine einzige Ausbeute war die Überzeugung gewesen, daß die Entwicklungslehre eine krachdürre Theorie war, die eine Schar kleiner Menschen mit Hilfe eines ungeheuren, unverständlichen Wortaufwandes aufgestellt hatten. Und jetzt erfuhr er, daß die Entwicklungslehre nicht nur bloße Theorie, sondern ein anerkannter Prozeß war, daß die Wissenschaftler sich nicht mehr darum stritten, sondern daß die einzige Meinungsverschiedenheit der Art der Entwicklung galt.
Und nun kam dieser Spencer, organisierte alles Wissen für ihn, brachte alles auf die Einheit zurück und entrollte vor seinem erstaunten Blick ein Universum, das ebenso konkret und leichtverständlich war wie die Schiffsmodelle, die die Seeleute in Glasflaschen verfertigen. Es gab keine Laune und keinen Zufall. Alles war Gesetz. Einem Gesetz zufolge flog der Vogel, und ebendemselben Gesetz zufolge hatte gärender Schlamm sich gezerrt und gewunden, hatte Beine und Flügel bekommen und war ein Vogel geworden.
Martin war in seinem geistigen Leben von Höhe zu Höhe gestiegen, und jetzt stand er höher als je. Alles Verborgene entblößte ihm seine Geheimnisse. Das Verständnis berauschte ihn. Nachts, wenn er schlief, lebte er im Traum in mächtigen Bildern unter Göttern, und am Tage, wenn er wach war, ging er wie ein Schlafwandler einher und starrte geistesabwesend auf die Welt, die er soeben entdeckt hatte. Bei Tisch vergaß er, auf die Unterhaltung zu hören, die sich um gleichgültige, unwürdige Dinge drehte, sein rastloser Geist arbeitete weiter und verfolgte in allem, was er sah, Ursache und Wirkung. In dem Fleisch auf seinem Teller sah er die strahlende Sonne und spürte ihre Kräfte durch alle Veränderungen bis zur hundert Millionen Meilen fernen Quelle oder verfolgte die Kräfte auf ihrem Wege bis zu den Muskeln, die seinen Arm bewegten und ihn befähigten, das Fleisch zu zerschneiden, und bis zu dem Gehirn, in dem der Wille saß, sich zu regen und das Fleisch zu zerschneiden, bis er vor seinem inneren Blick dieselbe Sonne in seinem Gehirn scheinen sah. Das Licht, das alles beschien, benahm ihn völlig, so daß er nicht das »Nicht ganz richtig« hörte, das Jim flüsterte, und weder den besorgten Blick seiner Schwester noch die Kreise bemerkte, die Bernard Higginbotham mit dem Finger beschrieb, um anzudeuten, daß im Kopf seines Schwagers eine Schraube los sei.
Was den tiefsten Eindruck auf Martin machte, war der Zusammenhang in allem Wissen. Er war wißbegierig gewesen, und alles, was er gelernt hatte, lag wohlverwahrt in abgetrennten Erinnerungsräumen seines Gehirns. So besaß er einen ungeheuren Wissensvorrat in bezug auf alles, was die See betraf. Auch über die Frauen wußte er viel. Aber diese beiden Gegenstände hatten keine Beziehung zueinander gehabt. Zwischen den zwei Räumen in seiner Erinnerung hatte keine Verbindung bestanden. Daß irgendwelche Verbindung zwischen einer hysterischen Frau und einem im Sturm beigedrehten Schoner bestehen sollte, würde er für lächerlich und unmöglich gehalten haben. Herbert Spencer aber hatte ihm gezeigt, daß es nicht nur nicht lächerlich, sondern daß ein Zusammenhang geradezu unumgänglich war. Alles hatte Beziehungen zueinander, von dem Stern, der draußen in der Öde des leeren Raums funkelte, bis zu den Myriaden Atomen im Sande unter seinen Füßen.
Dieser neue Gedanke war eine ewige Quelle der Verwunderung für Martin, und er beschäftigte sich andauernd damit, die Beziehungen zwischen allen Dingen unter der Sonne und jenseits der Sonne aufzuspüren. Er stellte Listen über die zusammenhanglosesten Dinge auf und kannte weder Rast noch Ruhe, ehe es ihm glückte, die Beziehungen zwischen ihnen aufzudecken – Beziehungen zwischen Liebe, Poesie, Erdbeben, Feuer, Klapperschlangen, Regenbogen, Edelsteinen, Mißgeburten, Löwengebrüll, Sonnenuntergängen, Gasbeleuchtung, Kannibalismus, Schönheit, Mord, Tabak, Hebeln und Stützpunkten. So brachte er Einheitlichkeit in das Universum, durchforschte es eindringlich und wanderte all seine Winkelwege und Buschpfade, nicht als ängstlicher Reisender mitten unter Mysterien und auf ein unbekanntes Ziel zu, sondern als ein Mann, der seine Beobachtungen machte, seinen Standpunkt feststellte und mit allem, was man wissen konnte, vertraut wurde. Und je mehr er wußte, desto leidenschaftlicher bewunderte er Universum und Leben und sein eigenes Leben mitten darin.
»Du Narr,« rief er seinem Spiegelbild zu, »du wolltest schreiben und versuchtest zu schreiben und hattest dabei nichts in dir, worüber du schreiben konntest. Was hattest du in dir? Einige kindische Vorstellungen, ein paar halbfertige Gefühle, eine Menge unverdaute Schönheit, ein dunkles Chaos von Unwissenheit, ein Herz, das vor Liebe zerspringen wollte, und einen Ehrgeiz, der so mächtig wie deine Liebe und so müßig wie deine Unwissenheit war. Und du wolltest schreiben: du, der erst auf der Schwelle dessen steht, wo es etwas zu schreiben gibt! Du wolltest Schönheit schaffen, aber wie konntest du es, ohne zu wissen, was Schönheit bedeutet? Du wolltest vom Leben schreiben, obwohl du nicht die Eigenschaften kanntest, die das Wesen des Lebens ausmachen. Du wolltest von der Welt und vom Sinn des Daseins schreiben, obwohl die Welt für dich wie ein chinesisches Puzzlespiel war, und alles, was du hättest schreiben können, sich um den Sinn des Daseins gedreht haben würde, von dem du nichts wußtest. Aber tröste dich, Martin, mein Junge. Du wirst noch schreiben. Du weißt ein wenig, ein kleines bißchen, und du bist auf dem Wege zu größerem Wissen. Wenn du Glück hast, wirst du schließlich alles wissen, was man wissen kann. Dann kannst du schreiben.«
Er erzählte Ruth von seiner großen Entdeckung und ließ sie an all der Freude und Verwunderung teilnehmen, die ihn erfüllte. Aber sie schien nicht so begeistert zu sein. Sie hörte ihm zu, ohne etwas zu sagen, und schien das alles irgendwie aus ihren eigenen Studien zu wissen. Die Entdeckung machte auf sie nicht den gleichen tiefen Eindruck, und er würde sich darüber gewundert haben, hätte er nicht gedacht, daß es für sie nicht ebenso neu und frisch wie für ihn war. Er erfuhr, daß Norman und Arthur an die Entwicklungslehre glaubten und Spencer gelesen hatten, wenn er auch anscheinend keinen tieferen Eindruck auf sie gemacht hatte, während der junge Mann mit der Brille und dem langen Haar – Will Olney hieß er – spöttische Bemerkungen über Spencer machte und den Ausspruch »Es ist kein Gott außer dem Unergründlichen, und Herbert Spencer ist sein Prophet« wiederholte.
Aber Martin verzieh ihm seine spöttische Bemerkung, denn es begann ihm aufzugehen, daß Olney nicht in Ruth verliebt war. Später machte er infolge mehrerer kleiner Vorfälle die geradezu verblüffende Entdeckung, daß Olney nicht allein nicht in Ruth verliebt war, sondern geradezu einen positiven Unwillen gegen sie hegte. Das verstand Martin nicht. Es war für ihn ein Phänomen, das mit den anderen Phänomenen im Universum nicht übereinstimmte. Immerhin tat ihm der junge Mann leid wegen des großen Mangels in seinem Wesen, der ihn verhinderte, Ruths Feinheit und Schönheit richtig einzuschätzen. Sie machten mehrmals an Sonntagen Ausflüge zu Rad in die Berge, und Martin hatte reichlich Gelegenheit, den bewaffneten Frieden, der zwischen Ruth und Olney