Aber dann ging ihm plötzlich auf, was das alles bedeutete, und sein Herz begann zu klopfen und ihn anzutreiben, als Liebender vor dieses Weib zu treten, das kein Geist aus andern Welten, sondern eine Frau wie alle andern war, mit Lippen, die von Kirschen gefärbt werden konnten. Er zitterte bei dem Gedanken, so kühn erschien er ihm, aber seine Seele sang, und in einem triumphierenden Siegessang gab seine Vernunft ihm recht. Sie mußte eine dunkle Ahnung von der mit ihm vorgegangenen Veränderung haben, denn sie hörte plötzlich mit Lesen auf, sah ihn an und lächelte. Sein Blick schweifte von ihren Augen zu ihren Lippen, und es war, als brächte der Anblick der Kirschenflecken ihn fast von Sinnen. Er mußte sich beherrschen, um nicht den Arm auszustrecken und sie zu umfassen, wie er es in seinen alten, gedankenlosen Tagen getan hätte. Sie schien sich vorzulehnen und zu warten, und er bedurfte seiner ganzen Willenskraft, um sich zurückzuhalten.
»Sie hören ja nicht ein Wort von dem, was ich lese«, schmollte sie.
Dann lachte sie ihm zu und belustigte sich über seine Verwirrung, und als er ihr in die freimütigen Augen sah, wußte er, daß sie nichts von seinen Gefühlen erraten hatte, und schämte sich. Er hatte sich in seinen Gedanken zu weit gewagt. Alle Frauen, die er kannte, hätten es erraten – außer ihr. Sie aber hatte es nicht. Das war der Unterschied. Sie war anders. Er erschrak über seine eigene Plumpheit, ihre reine Unschuld zwang ihn auf die Knie, und er starrte sie wieder über einen klaffenden Schlund hinweg an. Die Brücke war zerbrochen.
Aber doch hatte der Vorfall ihn ihr nähergebracht. Die Erinnerung daran blieb, und in den Augenblicken, wenn er am meisten niedergedrückt war, klammerte er sich an sie. Die Kluft wurde nie mehr so breit, wie sie gewesen war. Ja, Ruth war rein, von einer Reinheit, wie er sie nie geahnt hatte, aber wenn sie Kirschen aß, färbten sich ihre Lippen doch. Sie war den Gesetzen des Universums ebenso unentrinnbar unterworfen wie er. Wie er mußte sie essen, um zu leben, und erkältete sich, wenn sie nasse Füße bekam. Aber das war nicht das Entscheidende. Wenn sie Hunger und Durst, Kälte und Hitze fühlen konnte, so konnte sie auch Liebe fühlen – Liebe zu einem Manne. Nun, und er war ein Mann. Warum sollte er nicht der Mann werden können? »Ich muß es zu etwas bringen«, murmelte er leidenschaftlich. »Ich will der Mann sein. Ich will mich selbst zu dem Manne machen. Ich will vorwärtskommen.«
Zwölftes Kapitel
Als Martin eines Tages gegen Abend mit einem Sonett kämpfte, das alle Schönheit und allen Gedankenreichtum, der in ihm glühte und wogte, verzerrte, wurde er ans Telephon gerufen. »Die Stimme einer Dame –, einer sehr feinen Dame«, spöttelte Herr Higginbotham, der ihn gerufen hatte.
Martin trat an das Telephon in der Ecke der Stube und fühlte eine warme Woge sein ganzes Wesen durchströmen, als er Ruths Stimme hörte. In seinem Kampf mit dem Sonett hatte er ihre Existenz ganz vergessen, und beim Klang ihrer Stimme fühlte er seine Liebe plötzlich wie einen Schlag. Und wie war diese Stimme doch! – fein und sanft wie Musik in der Ferne, oder eher wie eine Silberglocke mit einem reinen, kristallklaren Ton. Kein irdisches Weib hatte eine solche Stimme. Es war etwas Himmlisches in ihr. Sie kam aus einer andern Welt. Er hörte kaum, was sie sagte, so überwältigt war er, wenn er auch seine Miene beherrschte, denn er wußte, daß Bernard Higginbotham ihn mit seinen kleinen listigen Augen belauerte.
Es war nicht viel, was Ruth zu sagen hatte – nichts, als daß Norman am Abend mit ihr in einen Vortrag hätte gehen sollen, aber Kopfschmerzen hätte, und daß es ihr leid täte, und nun hätte sie die Karten, und ob er, wenn er nichts anderes vorhätte, vielleicht mit ihr gehen wollte?
Ob er wollte? Er mußte sich Gewalt antun, um den Eifer in seiner Stimme zu unterdrücken. Das war verblüffend. Er hatte sie stets nur in ihrem Heim gesehen, hatte nie den Mut gehabt, sie zu bitten, mit ihm auszugehen. Während er noch am Telephon mit ihr sprach, fühlte er einen ganz unmotivierten, aber überwältigenden Drang, für sie zu sterben, und Bilder von Heldentaten und Opfern kamen und gingen in seinem rastlosen Hirn. Er liebte sie so heiß, so schrecklich und hoffnungslos. In diesem Augenblick, als er sich so wahnsinnig glücklich fühlte, weil sie mit ihm – mit ihm, Martin Eden! – zu einem Vortrag gehen wollte, erhob sie sich so hoch über ihn, daß ihm schien, ihm bliebe nichts übrig, als für sie zu sterben. Das war die einzige Möglichkeit, das mächtige, erhabene Gefühl, das er für sie hegte, auszudrücken. Es war die stolze Verleugnung der wahren Liebe, die über alle Verliebten kommt, und über ihn kam sie hier am Telephon in einem Wirbelsturm von Flammen und Herrlichkeit; und für sie sterben, das fühlte er, hieß auf die rechte Art sein Leben gelebt und geliebt zu haben. Er war ja erst einundzwanzig Jahre alt und hatte noch nie geliebt.
Seine Hand zitterte, als er den Hörer anhängte, und er fühlte sich ganz matt, so heftig war der Aufruhr, der in seinem Innern tobte. Seine Augen leuchteten, und sein Gesicht war wie verwandelt, von allem irdischen Schmutz befreit, rein und heilig.
»Stelldichein außer dem Hause, was?« spottete sein Schwager. »Du weißt wohl, was das bedeutet. Nimm dich nur vor der Polizei in acht.«
Aber Martin konnte nicht von seiner Höhe herabsteigen. Selbst diese viehische Andeutung konnte ihn nicht zu Boden ziehen. Zorn und Kränkung waren Gefühle, die weit hinter seinem Horizont lagen. Er hatte eine große Vision gehabt und sich als Gott gefühlt und konnte nur tiefes, inniges Mitleid mit diesem elenden Wurm von Mensch fühlen. Er sah ihn nicht, obwohl seine Augen ihn von oben bis unten streiften, und ging wie im Traum zum Zimmer hinaus, um sich umzuziehen. Erst als er sein eigenes Zimmer erreicht hatte und sich seine Krawatte band, hörte er ein Geräusch, das ihm noch unangenehm in den Ohren tönte. Als er dieses Geräusch bis zu seinem Ursprung zurückverfolgte, wurde ihm klar, daß es Bernard Higginbothams verächtlicher Schlußschnaufer war, der jetzt erst sein Bewußtsein erreichte.
Als Ruths Haustür sich hinter ihnen geschlossen hatte, und er neben ihr die Treppe hinabschritt, überkam ihn eine große Unruhe. Es war keine ungemischte Freude, mit ihr zum Vortrag zu gehen. Er wußte nicht, wie er sich benehmen sollte. Wenn er Leute ihrer Klasse auf der Straße gesehen, hatte er gewöhnlich bemerkt, daß die Frau den Arm des Mannes nahm. Dann aber hatte er wieder Leute gesehen, die es nicht taten, und er dachte darüber nach, ob Frauen nur abends Arm in Arm mit Männern oder Verwandten gingen, oder ob es zwischen Mann und Frau und zwischen Verwandten so üblich war.
Als sie den Bürgersteig erreichten, mußte er indessen an Minnie denken. Minnie hatte immer sehr auf Formen gehalten. Sie hatte ihn einmal, als sie mit ihm spazierenging, ausgescholten, weil er nicht auf der richtigen Seite ging, und jedesmal, wenn er es vergaß, hatte sie ihm einen Fußtritt versetzt, um ihn daran zu erinnern, was sich gehörte. Er dachte darüber nach, wo sie wohl dies Stückchen Lebensregel erwischt hatte, ob es von den höheren Kreisen zu ihr herabgedrungen war, und ob er sich darauf verlassen konnte, daß es so stimmte.
Ein Versuch kann ja nie schaden, sagte er bei sich, als sie auf dem Bürgersteig waren, und er ging dann auch hinter ihr herum und gelangte zwischen sie und den Fahrdamm.
Aber nun tauchte die nächste Frage auf. Sollte er ihr den Arm reichen? Nie im Leben hatte er jemand den Arm gereicht. Die Mädchen, die er bisher gekannt hatte, nahmen nie den Arm eines Mannes. Sie gingen anfangs nebeneinander, bald aber hatte der Mann seinen Arm um ihren Leib geschlungen, und in dunklen Straßen lehnten sie das Haupt an seine Schulter. Aber jetzt war es etwas ganz anderes. Sie war ein ganz anderes Mädchen. Er mußte etwas tun. Er krümmte den Arm, der ihr am nächsten war, krümmte ihn ganz leicht und gleichsam versuchsweise, nicht einladend, sondern nur zufällig, als pflege er so zu gehen. Und da geschah das Wunder. Er fühlte ihre Hand auf seinem Arm. Ein wonniges Zittern durchfuhr seinen