Erst am zwanzigsten Mai brach das Eis. Die Bewegung begann um fünf Uhr morgens. Die Tage waren schon so lang, daß Daylight sich aufsetzte und das Treiben des Eises betrachtete. Elijah war zu mitgenommen, um sich für das Schauspiel zu interessieren. Obgleich bei Bewußtsein, blieb er doch regungslos liegen, während das Eis vorbeisauste und große Stücke gegen das Ufer krachten, Bäume mit der Wurzel ausrissen und die Erde untergruben. Der ganze Boden um sie her wurde von diesen gewaltigen Zusammenstößen erschüttert. Nach einer Stunde hielt das Eis in seiner Fahrt inne. Irgendwo stromabwärts war es aufgehalten worden. Dann begann der Fluß zu steigen und hob das Eis auf seiner Brust, bis es das Ufer überragte. Immer mehr Wasser strömte den Fluß hinunter, und Millionen und aber Millionen Tonnen Eis vermehrten durch ihr Gewicht die angehäufte Menge. Der Druck und die Spannung waren furchtbar. Mächtige Eisschollen wurden herausgepreßt, bis sie hoch emporsprangen wie Melonenkerne zwischen Daumen und Zeigefinger eines Kindes, und am Flußufer entstand eine mächtige Eismauer. Als die Barre stromabwärts gesprengt war, verdoppelte sich das scheuernde, krachende Getöse. Noch eine Weile dauerte das Treiben des Eises. Der Fluß sank reißend schnell. Aber die Eismauer am Ufer, die bis hinunter in das sinkende Wasser reichte, blieb.
Nachtreibende Eisschollen kamen vorüber, und zum erstenmal seit sechs Monaten sah Daylight offenes Wasser. Er wußte, daß das Eis den oberen Lauf des Stewart noch nicht verlassen hatte, dort aufgehäuft und zusammengepreßt war und daß es jederzeit losbrechen und ein zweites Eistreiben verursachen konnte; aber ihre Lage war zu verzweifelt, als daß er noch länger hätte warten dürfen. Elijah war dem Tode nahe. Er selbst war nicht sicher, ob er Kraft genug in seinen ausgemergelten Muskeln besaß, um das Boot flott zu machen. Alles stand auf dem Spiel. Auf das nächste Eistreiben warten? Dann war Elijah sicher tot, und er selbst wahrscheinlich auch. Gelang es ihm, das Boot flott zu machen und einen Vorsprung vor dem zweiten Eistreiben zu gewinnen, ohne vom Eise des oberen Yukon eingeholt zu werden, so erreichten sie Sixty Mile und waren gerettet, wenn – und hier war wieder ein großes Wenn – wenn er Kräfte genug besaß, das Boot in Sixty Mile zu landen und nicht vorbeizufahren.
Er machte sich an die Arbeit. Die Eismauer erhob sich fünf Fuß über den Boden, auf dem das Boot ruhte. Er suchte die beste Stelle aus, um das Boot ins Wasser zu bringen, und fand eine mächtige Eisscholle, die sich schräg aus dem Wasser dicht an die Eismauer schob. Es war eine ganze Strecke bis dahin, aber nach einer Stunde hatte er es geschafft. Er war krank vor Anstrengung, und zeitweise wurde ihm schwarz vor Augen, er konnte nichts sehen, Lichtpunkte und Streifen, qualvoll wie Diamantstaub, tanzten ihm vor den Augen, während sein Herz klopfte, daß er fast erstickte. Elijah zeigte kein Interesse, er lag regungslos da, ohne die Augen aufzuschlagen, und Daylight mußte seinen Kampf allein ausfechten. Zuletzt – die gewaltige Anstrengung zwang ihn in die Knie – glückte es ihm, das Boot in sicherem Gleichgewicht oben auf die Mauer zu bringen. Auf Händen und Füßen kriechend, brachte er dann seinen Schlafsack, die Büchse und den Eimer ins Boot. Die Axt ließ er liegen, denn er hätte zwanzig Fuß zurückkriechen müssen, um sie zu holen, und er wußte, daß er sie nicht mehr brauchte.
Elijah ins Boot zu schaffen, war schwieriger, als er gedacht hatte, Zoll für Zoll, mit Pausen zwischen jedem Griff, schleppte er ihn über den Boden auf eine Eisscholle, die neben dem Boot lag. Aber ins Boot hinein vermochte er ihn nicht zu bringen. Elijahs kraftloser Körper war weit schwerer zu heben, als ein entsprechendes starres Gewicht. Daylight wollte ihn hochziehen, aber der schlaffe Körper knickte in der Mitte zusammen wie ein halbgefüllter Mehlsack. Da kletterte Daylight ins Boot und versuchte, seinen Kameraden hinter sich herzuschleppen. Aber er brachte nur Elijahs Kopf und Schultern über den Bootsrand. Sobald er oben losließ, um weiter unten zu packen, knickte der Erschöpfte auch schon wieder in der Mitte zusammen, und glitt auf das Eis zurück.
Da entschloß sich Daylight zu einem letzten verzweifelten Mittel.
»Herrgott, du Jammerlappen, nimm dich zusammen!« schrie er. »Da, du verdammter Kerl, da hast du's!«
Und jedes Wort begleitete ein Schlag auf die Backen, die Nase, den Mund, um auf diese gewaltsame Weise die fliehende Seele und den verirrten Willen des Mannes wieder ins Leben zu rufen. Die zitternden Augenlider hoben sich.
»Pass' auf!« schrie Daylight mit heiserer Stimme. »Wenn du deinen Kopf über den Bootsrand bekommst, so häng fest! Hörst du? Häng fest! Beiß mit den Zähnen hinein, aber häng fest!«
Die zitternden Augenlider schlossen sich wieder, aber Daylight wußte, daß seine Worte gewirkt hatten. Wieder zog er Kopf und Schultern des Hilflosen über die Reling.
»Häng fest, zum Teufel! Beiß hinein!« schrie er, als er losließ, um ihn unten zu packen.
Eine schlaffe Hand glitt von der Reling ab, und auch die Finger der andern ließen nach, aber Elijah gehorchte und hielt sich mit den Zähnen. Als Daylight ihn hochzog, scheuerte Elijahs Gesicht gegen den Boden des Bootes und Holzsplitter rissen ihm die Haut von Nase, Lippen und Kinn, aber kopfüber glitt er immer weiter ins Boot hinein, bis sein kraftloser Körper quer über der Reling zusammenfiel und nur noch die Beine über den Bootsrand hinaushingen. Aber auch die schob Daylight hinter ihm her ins Boot. Dann schöpfte er tief Atem, drehte Elijah auf den Rücken und deckte ihn mit den Schlafsäcken zu.
Nun war noch das letzte übrig – das Boot zu Wasser zu bringen. Dies war naturgemäß das Schwerste von allem und verlangte eine riesige Kraftanspannung. Daylight nahm alle Kräfte zusammen und machte sich ans Werk. Es mußte aber etwas in ihm gesprungen sein, denn als er nach einem Augenblick der Bewußtlosigkeit zu sich kam, lag er zusammengekrümmt auf dem scharfen Stern des Bootes. Zum erstenmal in seinem Leben war er ohnmächtig geworden. Dazu hatte er das Gefühl, daß er fertig wäre, daß er alle Beweglichkeit verloren hätte und, was das merkwürdigste war, daß ihm das alles ganz gleichgültig sei. Er hatte Visionen, klare und lebendige Visionen, und seine Sinne waren scharf wie die Schneide einer Stahlklinge. Er, der all seine Tage das nackte Leben vor Augen gehabt, hatte nie zuvor so viel von der Nacktheit des Lebens gesehen. Zum erstenmal spürte er einen Zweifel an seiner eigenen strahlenden Persönlichkeit. In diesem Augenblick strauchelte das Leben und vergaß zu lügen. Alles in allem war er nur ein kleiner Wurm, gerade wie alle andern Würmer, wie das Eichhörnchen, das er verzehrt, wie die andern Männer, die er hatte sterben sehen, wie Joe Hines und Henry Finn, die sicher ihren Untergang gefunden hatten, wie Elijah, der mit zerschundenem Gesicht auf dem Boden des Bootes lag, ohne sich um etwas zu kümmern. Wie Daylight lag, konnte er den Fluß hinauf bis zu der Biegung sehen, um die früher oder später das neue Eistreiben kommen mußte. Und als er so hinausblickte, war es ihm, als könnte er zurückblicken durch die Zeiten in eine Vergangenheit, als es weder Weiße noch Indianer im Lande gab, und immer sah er denselben Stewart, Winter auf Winter, mit Eis beladen, und Frühling auf Frühling, das Eis sprengend, bis er wieder frei dahinströmte. Und auch in eine unendliche Zukunft sah er, wenn die letzten des Menschengeschlechtes die Oberfläche von Alaska verlassen hatten, und er sah, ewig gleich, den Fluß, mit Eis und Überschwemmung, immer und immer strömen.
Das Leben hatte gelogen und betrogen. Es narrte alle Geschöpfe. Es hatte ihn genarrt, ihn, Burning Daylight, der es wie kaum ein zweiter mit Frohsinn gedeutet hatte. Er war nichts – nur ein Bündel Fleisch und Nerven, das im Schmutze herumkroch, um Gold zu finden, das träumte, strebte und spielte und das verging und hin war. Nur die toten Dinge blieben, die Dinge, die nicht Fleisch und Nerven waren – der Sand, die Erde und der Kies, die Ebenen, die Berge, der Fluß selbst, der zufror, und seine Decke sprengte, Jahr für Jahr, alle Zeit. Alles in allem war es ein falsches Spiel. Wer starb, konnte nicht gewinnen, und alle starben. Wer gewann? Nicht einmal das Leben, der Lockvogel, der zum Spiel verleitete – das Leben, der immer blühende Kirchhof, das ewige Grabgefolge. Für einen Augenblick kehrte er zur Gegenwart zurück und bemerkte, daß der Fluß immer noch offen war, und daß ein Häher sich auf dem Achterende des Bootes niedergelassen hatte und ihn frech ansah. Dann kehrte er wieder zu seinen Betrachtungen zurück.
Es war nicht möglich, dem Ende des Spiels zu entgehen. Sicherlich war er dazu verurteilt, alles mitzumachen. Und was dann? Immer wieder grübelte er