Daylight hatte Phantasie. Sein Horizont war begrenzt, aber was er sah, sah er groß. Seine Gedanken waren wohlgeordnet, seine Einbildungskraft praktisch, und er träumte nie ins Blaue hinein. Wenn er in seiner Phantasie eine große Stadt auf einer bewaldeten, schneebedeckten Ebene sah, so setzte er zuerst den Goldfund voraus, der diese Stadt ermöglichte, und dann richtete er sein Augenmerk auf die Möglichkeit, Anlegestellen für Dampfer, Sägewerke und Warenhäuser, kurz alles, was für eine Minenstadt im hohen Norden erforderlich war, zu schaffen. Aber das war doch nur gleichsam die Voraussetzung für noch Größeres: ein Spielfeld für sein Temperament. Alle Möglichkeiten schwärmten durch die Straßen und Gebäude seiner Traumstadt. Sie war ein Spieltisch im großen. Die Grenzen waren der Himmel, das Land im Süden auf der einen und das Nordlicht auf der andern Seite. Es mußte ein großes Spiel werden, größer als alle, die ein Mann am Yukon sich je hatte träumen lassen, und er, Burning Daylight, wollte schon dafür sorgen, daß er mit dabei war.
Vorläufig hatte er jedoch nichts Greifbares, es war nur Gefühlssache. Aber es kam schon noch. Wie er seine letzte Unze auf eine gute Pokerkarte setzte, so setzte er Leben und Kräfte auf diese Chance des großen Goldfundes am Upper-River. Und darum kämpften er und seine drei Kameraden sich mit Hunden und Schlitten über den gefrorenen Busen des Stewarts hinauf, und weiter und immer weiter durch die weiße Wüste, deren unendliche Stille noch nie von menschlichen Stimmen, von Axthieben oder dem fernen Knall einer Büchse durchbrochen war. Sie waren die einzigen, die sich durch diese unendliche gefrorene Stille bewegten, winzige Menschlein, die ihr Maß von Meilen täglich dahinkrochen, das Eis schmolzen, um Trinkwasser zu erhalten, und nachts im Schnee ihr Lager aufschlugen, während ihre Wolfshunde als reifbedeckte haarige Klumpen dalagen und die acht Schneeschuhe aufrecht neben den Schlitten im Schnee steckten.
Von anderen Menschen sahen sie nicht das geringste, nur einmal kamen sie an einer rohgezimmerten Schute vorbei, die auf einer Sandbank lag. Der Eigentümer war nie zurückgekehrt, sie zu holen, und sie fuhren verwundert weiter. Einmal stießen sie auf die Reste eines Indianerdorfes, aber die Bewohner waren verschwunden, befanden sich zweifellos am oberen Lauf des Stewarts auf der Elchjagd. Zweihundert Meilen vom Yukon fanden sie die Barren, von denen Al Mayo gesprochen hatte. Hier schlugen sie ihr Lager für längere Zeit auf, legten ihre Vorräte hoch, so daß die Hunde sie nicht erreichen konnten, und begannen mit der Arbeit, indem sie sich durch die Eisdecke hindurchgruben.
Es war ein hartes, einfaches Leben. Sie arbeiteten beim Frühlicht, sobald sie gefrühstückt hatten, und wenn die Nacht hereinbrach, kochten sie ihr Essen, verrichteten ihre Lagerarbeit, rauchten und unterhielten sich eine Weile und wickelten sich dann in ihre Schlafsäcke und schliefen, während das Nordlicht über ihren Häuptern flammte und die Sterne in der starken Kälte funkelten und flimmerten. Ihre Kost war einförmig: aus Sauerteig bereitetes Brot, Speck, Bohnen und gelegentlich ein Teller Reis, mit einer Handvoll gedörrter Pflaumen zusammengekocht. Frisches Fleisch war nicht aufzutreiben. Es herrschte ein ungewöhnlicher Mangel an Wild. Ab und zu fanden sie die Fährte eines Schneehasen oder Hermelins, aber im großen und ganzen schien das Land ausgestorben. Das war ihnen nichts Neues, denn sie hatten es schon oft erlebt, daß sie in einer Gegend, wo es das eine Jahr von Wild wimmelte, ein oder zwei Jahre später nicht ein Stück mehr antrafen.
Sie fanden zwar Gold an den Barren, aber es war nicht der Mühe wert. Als Elijah sich einmal fünfzig Meilen vom Lager auf der Fuchsjagd befand, hatte er Kies vom Grunde eines großen Baches ausgewaschen und gute Farben gefunden. Sie schirrten die Hunde an und fuhren mit leichter Ausrüstung hin. Hier – und vielleicht zum erstenmal in der Geschichte des Yukons – warfen sie mit Hilfe von Feuer einen Schacht aus. Es geschah auf Daylights Veranlassung. Nachdem sie Moos und Gras entfernt hatten, entzündeten sie ein Feuer aus trockenen Tannenzweigen. Nach sechs Stunden war der Boden acht Zoll tief aufgetaut. Sie trieben ihre Hacken hinein, schaufelten ein Loch und zündeten ein neues Feuer an. Angespornt von dem Erfolg ihres Experimentes arbeiteten sie von früh bis spät. Nach sechs Fuß gefrorener Erde erreichten sie eine Kiesschicht, die ebenfalls gefroren war. Hier ging die Arbeit langsamer vonstatten. Aber sie lernten bald, ihr Feuer besser zu handhaben und fünf bis sechs Zoll auf einmal aufzutauen. Es gab Goldstaub in dem Kies, und nach weiteren zwei Fuß stießen sie wieder auf Erde. In siebzehn Fuß Tiefe kam wieder eine dünne Schicht Kies, der groben Goldstaub enthielt, und die Probepfannen ergaben eine Ausbeute von je sechs bis acht Dollar. Leider war diese Schicht nur einen Zoll dick. Darunter war wieder Erde, vermischt mit alten Baumstämmen und versteinerten Knochen längst verschwundener Ungeheuer. Aber sie hatten Gold gefunden – richtiges Gold. Und was war natürlicher als anzunehmen, daß der große Fund auf der abschließenden Felsunterlage gemacht werden würde? Sie beschlossen, in zwei Schichten zu arbeiten, und waren Tag und Nacht an zwei Stellen tätig, während der Rauch ihrer Feuer zum Himmel stieg.
Als zu dieser Zeit die Bohnen knapp wurden, fuhr Elijah nach dem Hauptlager zurück, um mehr Proviant zu holen. Elijah war selbst ein erprobter alter Schlittenführer. Es waren rund hundert Meilen, aber er versprach, am dritten Tage zurückzukommen, indem er einen Tag für die Hinfahrt und zwei für den Rückweg mit dem beladenen Schlitten berechnete. Statt dessen kam er schon am Abend des zweiten Tages. Die andern hatten sich gerade schlafen gelegt, als sie ihn kommen hörten.
»Was ist los, zum Teufel?« fragt Henry Finn, als der leere Schlitten in den Lichtschein fuhr und er bemerkte, daß Elijahs langes ernstes Gesicht noch länger und ernster als gewöhnlich war.
Joe Hines warf Holz auf das Feuer, und die drei in ihre Schlafsäcke gehüllten Männer krochen dicht an das Feuer heran. Elijahs bärtiges Gesicht war bis zu den Augenbrauen mit einer Eisschicht bedeckt, so daß er der Karikatur eines Weihnachtsmannes glich.
»Ihr wißt die große Tanne, direkt am Flusse, die die eine Ecke des Brettes mit unsern Vorräten trägt?« begann er.
Das Unglück war schnell erzählt. Der scheinbar starke Baum war von irgendeiner versteckten Krankheit angegriffen gewesen, hatte die Last der Vorräte und des Schnees nicht ertragen, hatte das so lange bewahrte Gleichgewicht verloren und war zu Boden gestürzt. Die Vorräte waren fort. Die Vielfraße hatten alles, was sie nicht gefressen hatten, verdorben. »Sie haben allen Speck, Pflaumen, Zucker und Hundefutter gefressen«, berichtete Elijah. »Und dann haben die verdammten Biester Löcher in die Säcke gefressen und Mehl, Bohnen und Reis von Dan bis Beerseba verstreut. Ich hab' leere Mehlsäcke gefunden, die sie eine Viertelmeile verschleppt hatten.«
Eine Weile sprach keiner ein Wort. Es war eine Katastrophe, mitten in einem arktischen Winter und einem vom Wilde verlassenen Lande den Proviant zu verlieren. Das Entsetzen lähmte sie nicht, aber sie mußten der Situation ins Auge sehen und einen Ausweg finden. Joe Hines fand zuerst die Sprache wieder. »Wir können Reis und Bohnen aus dem Schnee auswaschen, wenn es auch nicht mehr als acht bis zehn Pfund geben wird.«
»Und einer muß mit einem Gespann bis nach Sixty Mile hinunter«, sagte Daylight.
»Ich fahre«, sagte Finn.
Sie grübelten eine Weile.
»Aber wie sollen wir das andere Gespann und drei Mann ernähren, bis er zurückkommt?« fragte Hines.
»Es gibt nur eine Möglichkeit«, meinte Elijah. »Du mußt das andere Gespann nehmen, Joe, und den Stewart hinauffahren, bis du die Indianer findest. Dann kommst du mit Fleisch zurück. Du mußt lange wieder da sein, ehe Henry von Sixty Mile zurück ist, und in eurer Abwesenheit brauchen wir nur Essen für Daylight und mich. Wir müssen uns eben mit kleinen Rationen begnügen.«
»Und morgen früh fahren wir alle zum Depot und waschen den Schnee aus, um zu sehen, was wir haben.« Mit diesen Worten legte Daylight sich hin und wickelte sich in seinen Schlafsack. »Jetzt wollen wir schlafen, damit wir morgen zeitig wegkommen«, fügte er hinzu. »Zwei von euch können die Hunde mitnehmen. Elijah und ich werden einen Abstecher machen, um zu sehen, ob wir einen Elch erwischen.«