»Ah, Mr. Quicksilver. Wir dachten, Sie würden nicht mehr kommen«, sagte Carcharodon in frostigem Ton. »Wir wollten gerade ohne Sie beginnen.«
»Kein Grund, sich zu sorgen«, erwiderte Ulysses. »Ich bin ja jetzt da, sodass die Party starten kann.«
»So, Mr. Sylvester, ich hörte, Ihr Arbeitgeber ist zu krank für unsere kleine historische Reise.«
»Ich fürchte, genauso ist es, Mr. Carcharodon«, stimmte der aalglatte junge Mann mit dem glänzenden zurückgegeelten Haar zu.
Alles an ihm, angefangen bei seiner restriktiven Haltung bis hin zu seiner schneidigen Kleidung, schrie für Ulysses nach einem draufgängerischen Geschäftsmann. Dies war ein Mann auf einer Mission, die Karriere stets vor Augen. Als Repräsentant von jemandem so Mächtigen und Einflussreichen wie Josiah Umbridge aufzutreten, dem Gründer und Eigner von Umbridge Industries – der führende Industrielle des Imperiums, mit unzähligen Fabriken und Stahlwerken unter seinem Namen – belegte das. Ulysses bezweifelte ernsthaft, dass Dexter Sylvester während der gesamten Kreuzfahrt ausspannen würde. Sicherlich würde er sein Netzwerk durch neue Bekanntschaften unter den einflussreichen Passagieren ausbauen. Ebenso würde er seine Arbeit für Umbridge Industries, wie auch immer diese aussah, aus der Ferne fortführen und per Fern-Differenzmaschine versenden. Die Neptune war mit dem modernsten elektronischen Radio-Fernschreiber-Kommunikationssender ausgestattet.
Das Dessert wurde serviert: Crème brûlée mit warmem Beeren-Püree. Ulysses Quicksilver betrachtete die Gäste, als diese sich auf die Süßspeise stürzten. Dank seines freundlichen Charmes und der sympathischen Umgehensweise mit allem und jedem, hatte er nach kurzer Zeit an Bord bereits die Bekanntschaft mit einem Großteil des Personals als auch der anderen Passagiere gemacht. Als Folge davon wusste er über praktisch jeden am Tisch eine ganze Menge. Er stellte fest, dass da noch mehr war, was er wissen wollte. Es hatte den Anschein, als ob keiner der zur Weltumschiffung Eingeladenen auf seine Weise ohne Vorgeschichte war. Ein befreundeter Schriftsteller aus seiner Schulzeit in Eton hatte ihm einmal Folgendes gesagt: »Jeder ist der Protagonist seiner eigenen Lebensgeschichte. Jeder ist ein Held in einer Geschichte, die es wert ist, erzählt zu werden. Im echten Leben gibt es keine Nebenfiguren.«
Er begann in Gedanken für jeden seiner Reisegefährten eine Akte anzulegen. Darin enthalten waren jeglicher Klatsch und Tratsch, Fakten, Beobachtungen und Gerüchte, die er bislang aufgeschnappt hatte. Und wie es sich gehörte, begann er diese Arbeit mit ihrem symbolischen Gastgeber, dem Captain, welcher am Kopf des Tisches saß.
Captain Connor McCormack war, wie erwartet, der erfahrenste, vertrauenswürdigste und kompetenteste Captain der Carcharodon Flotte. Um das Kommando über den neuen tauchfähigen Liner zu übernehmen, gab er das Kommando über die Nautilus auf, welche bis zum Bau der Neptune das Flaggschiff der Great White Line gewesen war. Von Kopf bis Fuß der maritime Held und dennoch mit einem leicht gelösten Weltschmerz, welchen sein Blick nicht verbergen konnte. Ulysses vermutete, dass er zu Beginn seiner Karriere nie damit gerechnet hätte, als Captain eines Luxusliners zu enden.
Finanziell, und vor allem mit Blick auf den Ruhm, war dieser Karriereweg wohl nicht der übelste. Ulysses hatte diesen Ausdruck von Weltschmerz schon einige Male gesehen, vor allem bei pensionierten Armeeveteranen, deren Lebensmittelpunkt, für Queen und Land zu kämpfen und zu dienen, plötzlich wegbrach. Ohne ihren Lebensmittelpunkt fühlten sich viele wie kastriert, ohne den Feinden des Imperiums ins Gesicht zu schauen und sie aufrichtig bekämpfen zu können. Vielleicht hatte sich Captain McCormack kein Amt auf See gewünscht. Ulysses konnte ihn sich durchaus als Kommandant eines Raumschiffs vorstellen, auf dem Weg in unbekannte Territorien außerhalb der Grenzen des Solarsystems. Ein forschender Weltraum-Abenteurer auf der Suche nach fremden Leben in anderen Welten.
Rechts neben dem Captain saß ein Mann, welchen Ulysses vorher nie getroffen hatte, obwohl sein Name in diversen Zeitungsartikeln um das gleiche Debakel, in welchem sich Ulysses selbst wiedergefunden hatte, in einigen Zeilen erwähnt worden war. Vielleicht war das der Grund, warum Professor Maxwell Crichton, emeritierter Professor für Genetik und Evolutions-Biologie am National History Museum und einstiger Kollege des viel geschmähten Professors Ignatius Galapagos – von welchem er sich krampfhaft zu distanzieren versuchte – die Einladung zu einer Weltreise angenommen hatte: Um der Hetzjagd der Boulevard-Presse zu entkommen.
Er sah wirklich gehetzt und nervös aus. Altersmäßig um die fünfzig mit einer dünnen Figur, welche von der typischen Vernachlässigung von Akademikern für ihren Körper zeugte. Drei regelmäßige Mahlzeiten pro Tag – das war alles. Seine Kurzsichtigkeit war wahrscheinlich das Resultat langer Stunden der Forschung in schwachem Lampenlicht und wurde durch eine Drahtgestellbrille ausgeglichen. Sein Kopfhaar war grau-weiß, kurz und borstig. Wenn er sprach, türmte er seine Finger vor dem Gesicht auf, die Ellbogen auf dem Tisch. Er redete stets in ernstem Tonfall – von der Politik bis zur Religion, über den Terrorismus auf der ganzen Welt und seine eigene Forschung auf dem Gebiet der Evolutions-Biologie. Obwohl er dank des Abendessens in geselliger Runde hätte entspannen können, wirkte Professor Crichton hohläugig und furchtsam. Ulysses erwartete schon fast, ihn ängstliche Blicke über die Schulter werfen zu sehen. Als Ulysses gerade darüber nachdachte, fiel ihm auf, dass der Professor tatsächlich eine ganze Weile zu einem anderen Gast des Captains hinüberschaute: Zu Lady Denning, welche ihm gegenüber saß und von ihm mit dunklen Blicken über den Brillenrand unter den vorstehenden Augenbrauen bedacht wurde.
Ulysses tat es Crichton gleich und richtete seinen prüfenden Blick auf Lady Josephine Denning. Bis zu diesem Abend kannte Ulysses sie nur aus Erzählungen. Sie hatte nicht den gleichen seriösen Hintergrund wie Professor Crichton, dennoch war sie eine der führenden Persönlichkeiten in ihrem Wissenschaftsgebiet, dem der Meeresbiologie. Was Lady Denning nicht über Fisch wusste, war es gar nicht erst wert, überhaupt gewusst zu werden. So war es Ulysses zumindest spöttisch zugetragen worden. Ihren Titel hatte sie durch die Hochzeit mit Lord Horatio Denning erhalten, welcher, obwohl sein Familiensitz in Nordengland lag, die meiste Zeit auf seiner Jacht durchs Mittelmeer segelte. Bei einer dieser Reisen hatte er vor der Küste Sardiniens eine gewisse Doktorandin kennengelernt, welche dort Seegurkenpopulationen katalogisierte. Sein Geld und sein vererbter Titel hatten der späteren Lady Denning den Einfluss und die Aufmerksamkeit gebracht, welche sie brauchte, um ihre Arbeit voranzutreiben. Doch das war vor langer Zeit gewesen. Lord Denning war mehr als zwanzig Jahre älter als seine Ehefrau und verstarb zwei Jahre nach der Hochzeit an einer Vergiftung durch ein achtlos zubereitetes Pilzgericht in Japan. Lady Denning hatte nie erneut geheiratet. Mittlerweile befand sie sich in den Sechzigern und benahm sich mit einer Anmut und Gelassenheit wie eine hochgeborene Frau und nicht wie eine, die durch Hochzeit in diese Kreise Einlass gefunden hatte. Durch regelmäßiges Yoga und eine reichhaltige Diät aus öligem Fisch hatte sie ihre Figur behalten, sodass sie besser aussah, als ihr Alter hätte vermuten lassen.
Links von ihr saß der Schiffsarzt, Dr. Samuel Ogilvy, welcher selbst keinen gesunden Eindruck machte. Ulysses schätzte ihn auf Mitte vierzig, also nicht viel älter als er selbst. Die wächserne Farbe seiner Haut und die stark umrandeten Augen sprachen eindeutig dafür, dass es diesem Mann nicht gut ging. Als Ulysses ihn ansah, kam ihm die alte Redensart in den Sinn: Heiler, heile dich selbst. Er wusste bereits, dass Ogilvy in mehr als einem Sinne kein gesunder Mann war. Und es war nicht die Seekrankheit, die den Doktor im Griff hatte. Sollte er tatsächlich unvorsichtig sein und seinen Weg in dieser Weise weiterverfolgen, könnte das tödliche Folgen für ihn haben.
John Schafer saß Ogilvy gegenüber. Er hatte wie üblich eine gesunde Gesichtsfarbe und leuchtende Augen. Sowohl sein Haarschnitt als auch der Schnitt seiner Kleidung waren moderner als die der anderen Anwesenden. Da er selbst modebewusst war, versuchte Ulysses stets, seinen eigenen Stil zu entwickeln. In seinen Augen hatte das bislang auch gut funktioniert. Der junge Mann konnte seinen glückseligen Gesichtsausdruck nicht verbergen. Genauso wenig konnte er das Tätscheln der Hand seiner Liebsten neben sich unterlassen. Im Gegenzug konnte Constance Pennyroyal die Augen nicht von ihrem stattlichen Schönling lassen. Unter flatternden Lidern tauschte sie permanent Blicke mit ihm aus. Beide waren so sehr mit