»Mein Gott!«, keuchte Engelhard. Angst durchdrang ihn. Im nächsten Moment wandelten sich Angst und Unglaube in Instinkt und eingeübte Routinen. »Alle auf ihre Posten!«
Mr. Hayes blieb am Steuerrad. Der Rest der Mannschaft rannte über Deck, um seinem Befehl zu folgen. Captain Josef Engelhard selbst sprintete zum Bug des Dampfers, den auf dem Weg liegenden Hindernissen – Bündeln von Stahlkabeln, Pfosten, bedeckten Bodenluken – wie im Schlafe ausweichend, hinüber zur Walkanone, welche dort wie eine wütende Kriegs-Gallionsfigur thronte.
Während die Unterseekreatur, oder was immer es war, weiter auf die Venture zuschoss, erreichte er die auf einem Drehgelenk befestigte Waffe. Seine Hände schlossen sich um die Griffe, rissen die Kanone herum und richteten sie auf die näherkommende Masse aus.
Engelhard schoss, ohne zu zögern. Die zwei Meter lange Harpune mit ihrer gezackten Spitze löste sich aus der Kanone. Sie zog ein hochdehnbares Stahlkabel hinter sich her, welches sich von einer Winde entrollte und schlug in den weißen Schaum des Meeres. Das Kabel zog sich stramm und der Bug senkte sich gefährlich. Die Venture wurde scharf herumgerissen, als die Harpune ihr Ziel traf, und die Seemänner klammerten sich fest, als das Schiff herumgerissen wurde. Hayes stoppte die Maschinen, um den Widerstand abzumildern. Dann war es still. Das Meer um den Dampfer bewegte sich sanft auf und ab und das Stahlseil lockerte sich.
»Wir haben es erwischt«, sagte Engelhard und konnte es selbst kaum glauben. »Wir haben es erwischt!«
Er verließ die Harpune und schwankte zurück zum Kabinenaufbau, dabei grinste er in die verblüfften Gesichter seiner Mannschaft. »Wir haben es! Holt es ein, damit wir sehen, was wir da gefangen haben. Danach können wir überlegen, was es uns auf dem Schwarzmarkt einbringen wird.«
Mit einem gefährlichen Ruck zog sich das Kabel erneut stramm und klirrte wie eine gespannte Gitarrensaite. Der Bug senkte sich erneut.
»Was in Teufels Namen!«, war alles, was Engelhard herausbringen konnte, bevor seine Welt aus den Angeln gehoben wurde und das Deck unter ihm verschwand. Sein Fall endete abrupt an der Walkanone.
Die mit Bolzen solide befestigte Kanone wackelte, als die Venture sich aufstellte. Der Bug des Schiffes verschwand in der blasenwerfenden Meeresoberfläche. Gleichzeitig explodierte das Meer um das Schiff herum. Sich krümmende Formen, lediglich als Silhouette vor dem grauen Himmel zu erkennen, wuchsen an allen Seiten des Schiffes empor und schlugen auf den Dampfer nieder, wickelten sich grausam und erdrückend um ihn. Der Schornstein knickte ein und das Dach des Kabinenaufbaus zersplitterte. Die Hülle protestierte knarzend, als sie erst verbogen und anschließend in dutzende Stücke zerrissen wurde.
Mit einem plötzlichen Whoomph wurde die Venture gewaltsam unter die Wasseroberfläche gezogen. Das aufgewühlte Wasser schloss sich über ihr und füllte das Loch, wo kurz vorher noch das Schiff gewesen war. Von einem Moment auf den anderen war nichts vom Opium, dem Dampfschiff oder seiner Mannschaft zurückgeblieben.
Stille senkte sich über den Meeresspiegel. Ein paar zerbrochene Holzbretter und Ölflecken waren die einzigen Anzeichen, dass hier jemals ein Schiff gewesen war. Zwischen dem wenigen Treibgut befand sich außerdem ein einzelner abgenutzter Rettungsring, auf welchem der Name Venture stand. An diesem klammerte sich ein fast bewusstloser Captain Engelhard.
Erster Teil
20.000 Meilen unter dem Meer
Juli 1997
Unter den Donnern der Oberfläche der Tiefe, weit, weit drunten im abgrundtiefen Meer, seinen uralten, traumlosen, ungestörten Schlaf der Krake schläft …
Alfred Lord Tennyson, Der Krake
Kapitel 1
In 80 Tagen um die Welt
LUXUSLINER SETZT DIE SEGEL ZUR JUNGFERNFAHRT von unserer Reporterin »an Bord«, Miss Glenda Finch
»In 80 Tagen um die Welt – mit Stil!« Dies sind die vollmundigen Versprechungen der Carcharodon Shipping Company, den Eigentümern des neuen Unterwasser-Luxusliners Neptune, welcher am 5. Juli von Southampton aus in See stechen wird. Die Company verspricht jenen, die sich eine (ein kleines Vermögen kostende) Kabine leisten konnten, das Erlebnis einer bisher nicht für möglich gehaltenen Luxusreise über die Ozeane der Welt mit allen bemerkenswerten und berühmten Sehenswürdigkeiten.
Jonah Carcharodon stellte diese kühne Behauptung während der Festivitäten rund um den Stapellauf der Neptune wiederholt auf. Mit einer traditionellen Flasche teuren Champagners, welche auch an Bord der Neptune in einer ihrer vielen Bars und Restaurants serviert wird, wurde das Schiff von seiner königlichen Hoheit, dem Herzog von Cornwall, getauft. Gerüchten zufolge hat Carcharodon eine sehr hohe Wette auf seine Jungfernfahrt gegen die Zeit gesetzt.
Neben den geschätzten dreitausend zahlenden Gästen wurden von Jonah Carcharodon einige Ehrengäste und VIPs persönlich eingeladen. Diese sollen der Jungfernfahrt des neuesten Mitglieds der Great-White-Shipping-Line-Flotte einen Hauch von Glamour und ein großes Medieninteresse einbringen. Unter der geladenen Elite soll sich auch der Held des Empire, Ulysses Quicksilver persönlich befinden. Wie aufmerksame Leser der Times wissen, war dieser entscheidend an der Vereitlung einer Verschwörung gegen das Leben ihrer Majestät beteiligt. Doch ob er die Reise für ein wenig Ruhe und Erholung, der Suche nach reizender Bekanntschaft aus den Reihen der Prominenten und neureichen Erbinnen an Bord oder für einen anderen geheimnisvollen Grund antritt, wird die Zeit zeigen.
»Ihr Cognac, Sir«, sagte der Butler und beugte die Hüfte, um seinen Herrn das perfekt in der Mitte des Tabletts positionierte Glas zu reichen.
»Danke sehr, Nimrod«, entgegnete der jüngere Mann mit einem Lächeln und nahm das ballonförmige Glas mit seiner linken Hand. Behutsam schwenkte er dessen Inhalt, bevor er das Glas zu seinem Mund führte. Vor dem ersten Schluck genoss er das vollmundige Aroma des Brandys. Die Geschmacksknospen seiner Zunge erfreuten sich an der prickelnden Berührung, bevor er in den Sinneseindrücken schwelgen konnte, welche der Cognac hervorrief, als er wie flüssiger Honig seine Kehle hinabrann.
»Sehr schön«, sagte er, während er sich auf der Sonnenliege zurücklehnte.
»Sonst noch etwas, Sir?«
»Nein, ich denke, das genügt fürs Erste«, antwortete Ulysses Quicksilver, fuhr sich mit der Hand durch seine Mähne dunkelblonden Haares und rückte die Sonnenbrille zurecht, welche auf seiner Nase thronte.
»Sehr wohl, Sir. Wenn Sie nichts dagegen haben, werde ich mich dann in die Suite zurückziehen und um einige Angelegenheiten bezüglich des Haushalts kümmern, welche meiner Aufmerksamkeit verlangen.«
»Bestens, Nimrod. Worauf auch immer du Lust hast, würde ich sagen«, erwiderte Ulysses und schenkte seinem loyalen Butler ein schalkhaftes Grinsen. Nimrods Antwort bestand aus dem Heben einer Augenbraue, bevor er auf dem Absatz kehrtmachte und steif, mit dem Tablett in der Hand, vom Sonnendeck marschierte.
Ulysses Quicksilver streckte sich auf der Korbliege. Er ordnete seinen cremefarbenen Leinenanzug und lockerte die azurblaue Seidenkrawatte, bevor er die Wärme der Sonne auf seinem Gesicht genoss.
Ein schmerzhafter Stich fuhr durch seine rechte Schulter und erinnerte ihn daran, warum er Jonah Carcharodons Einladung zur Jungfernfahrt der Neptune angenommen hatte. Das Debakel um Queen Victorias 160. Jubiläum war jetzt etwas über einen Monat her, und sein linker Arm war geheilt und benötigte keinen Verband mehr, auch wenn er bei Überdehnungen nach wie vor schmerzte. Seine Schulter jedoch war bei seinem fast tödlichen Absturz am Mount Manaslu im Himalaja erheblich schwerer verletzt worden. Er konnte sich glücklich schätzen, damals mit dem Leben davongekommen zu sein. Nicht, dass das ein Spaziergang gewesen wäre. Er war von der Absturzstelle und dem steil abfallenden Felsvorsprung weggekrochen, als ihn die Unterkühlung außer