»Du wirst mich wahrscheinlich für verrückt halten, aber ich glaube, dass ich von ihrem Geist heimgesucht werde.«
»Wie kommst du darauf?«
»Das erste Mal war sie mir in der Nacht des Unfalls erschienen, in der Höhle.«
Ich erzählte ihm im Detail, wie mir letztlich der Ausstieg aus der Höhle geglückt war und von dem anschließenden Marsch, der mich in Richtung Highway führen sollte; Hannahs Geist hinterher trottend. Ich wusste nicht, ob Andrew lachen oder aber mir auf die Schulter klopfen würde, mit dem gut gemeinten Ratschlag, einen Seelenklempner aufzusuchen, doch auf beides wartete ich vergeblich. Er lauschte der Geschichte, ohne mich zu unterbrechen.
»Danach sah ich sie immer mal wieder in meiner Wohnung. Immer aus den Augenwinkeln. Aber jedes Mal, wenn ich mich in die vermeintliche Richtung drehe, sehe ich entweder die Kleiderablage oder einen Berg Wäsche. Wenn ich das Licht anmache, ist sie ebenfalls verschwunden.« Wieder tat ich das Gesagte mit einem Wink meiner Hand ab. Es schien eine rational hinterlegte Geste zu sein, eine, mit der ich die Echtheit einer dennoch lachhaft anmutenden Story glaubhaft rüberzubringen vermochte. »Klingt dämlich, ich weiß, aber es beschäftigt mich.«
»Warum?«, fragte Andrew.
Ich wusste nicht genau, worauf er mit der Frage abzielte. »Weil es zur Hölle noch mal nicht natürlich ist.«
»Nein.« Er bewegte einige Finger vor seinem Gesicht. »Ich meine, warum gerade jetzt? Sie ist bereits seit drei Jahren tot.«
»Daran habe ich nicht gedacht«, entgegnete ich. »Es spielt sich sowieso nur in meinem Kopf ab! Ich musste mich seit ihrem Tod mit einer Menge Scheiße rumärgern.«
»Vielleicht ist es eine Warnung. Vielleicht versucht sie, dir vom Jenseits eine Warnung zukommen zu lassen.«
»Oder ich habe zu viel Zeit allein mit meinen Gedanken verbracht.«
»Und in der Höhle?«, fragte er mit einer hochgezogenen Augenbraue.
»In der Höhle hatte ich Höllenqualen auszustehen. Stand am Rande einer Unterkühlung, war beinahe schon dehydriert und litt auch sonst an sämtlichen, gesundheitlichen Supergaus, die du dir vorstellen kannst. Ich hätte Big Foot zu meiner Rettung herbeieilen sehen können, und zum damaligen Zeitpunkt wäre es mir als das Natürlichste der Welt vorgekommen.«
Andrew entrang sich einen tiefen Seufzer und strich sich mit dem Zeigefinger über die obere Lippe. Seine Augen ruhten auf mir. »Du bist ja ein ziemlicher Realist. Kannst du dich eigentlich noch an all den irren Scheiß erinnern, den wir zusammen unternommen haben?«
Ich nickte zustimmend, konnte mich gut daran erinnern.
»Dein Rationalismus wird dich noch in die Knie zwingen.«
Verärgert über diese Aussage sagte ich schnaubend: »Das ergibt doch keinen Sinn.«
»Alles ergibt einen Sinn. Hör mal«, forderte er mich auf, und diesmal klang seine Stimme nicht wie ein leise gehauchtes Atmen. »Ich glaube an das Schicksal. Und ich glaube, dass uns das Schicksal heute Abend hier zusammengeführt hat.«
»Wieso sollte das Schicksal so viel Ärger auf sich nehmen wollen?«
»Damit ich mich entschuldigen kann.«
Seine Antwort kam völlig unerwartet und überraschte mich.
»Wofür denn entschuldigen?«
»Für all die Zeit, die wir nach Hannahs Tod verloren haben. Für mein Verschwinden in den letzten drei Jahren. Und dass ich mich bei eurer Scheidung auf ihre Seite geschlagen habe.«
Ich wandte den Blick ab und beobachtete, wie der Rauch meiner Zigarette kräuselnd in die Luft stieg. »Das ist schon in Ordnung. Schließlich warst du mit ihr befreundet. Abgesehen davon war ich ein Arschloch. Es war allein meine Schuld, dass es überhaupt zur Scheidung gekommen ist.« Irgendwie hoffte ich, dass Andrew dieses Eingeständnis relativieren würde, dass sowohl Hannah als auch ich unseren Beitrag zur Trennung beigetragen hätten, aber er sagte nichts dergleichen. Selbst wenn er etwas in der Art vorgebracht hätte, wäre es eine Lüge gewesen. Dass Hannah mich verlassen hatte, war ganz allein auf meinem Mist gewachsen, nicht unserem.
»Hast du schon von der Schlucht der Seelen gehört?«, fragte er mich.
Die Szene kam mir vor wie aus einem alten Film: Wie er sich über den Tisch beugte und mir in einem flüsternden und verschwörerisch klingenden Ton die Frage gestellt hatte. »Hast du?«
»Nein.«
»Es ist ein Tal, ein Gletschertal, glänzend wie eine auf Hochglanz polierte Rutschbahn unter der Erde und niemand auf diesem Planeten soll bisher in der Lage gewesen sein, es von einem Ende zu anderem durchwandert zu haben. Zur Hölle, Tim, niemand überhaupt soll es bisher gesehen haben. Niemand, Tim.«
Ein kalter Finger berührte den Grund meiner Wirbelsäule. Ich befand mich nicht mehr in der Bar, eine Unterhaltung mit Andy führend, sondern in meiner Wohnung und beobachtete die miteinander verschmolzenen Schatten in der Dunkelheit. Aber gleichzeitig fand ich mich auch in der Höhle wieder, mit dem verletzten Bein und dem Gestank meines eigenen, unmittelbar bevorstehenden Todes in der Nase. Ich dachte an Hannah und ihre Hand, die sie durch eine kleine Öffnung in der niedrigen Decke geschoben und mich hinausgeführt hatte. An ihr zwischen den Bäumen auftauchendes Gesicht, wie sie mich auf den Highway gelotst hatte, den ich ohne ihre Unterstützung niemals hätte finden können.
»Niemand«, hörte ich mich wiederholen.
»Ich hab schon viel Mist erlebt. Hab die ganze Welt bereist. Hier, schau dir das mal an.« Er krempelte einen Ärmel hoch und entblößte eine verblasste, von Falten durchzogene Narbe, die entlang des Unterarms verlief und ungefähr den Durchmesser eines Tennisballs aufwies. »Hast du eine Ahnung, was das hier verursacht haben könnte? Irgendeine Idee?«
»Nein, keine Idee.«
»Ein Stier. Ein Stier hat meinen Arm auf den Straßen von Pamplona durchbohrt. Scheiße, Mann, in Vietnam habe ich das Herz von lebenden Schlangen verspeist, während ich das Ganze mit Gallensaft runtergespült hab. Ich wurde Zeuge von den abartigsten Sexpraktiken – so Zeug mit Affen und Eseln, und eine Sache, die als »flüchtiges Verpflanzen« berüchtigt ist, etwas so Abscheuliches, dass du es gesehen haben musst, um es glauben zu können. Das alles ist inzwischen ein alter Hut für mich. Ich strebe nach etwas Größerem, nach dem ultimativen Jackpot.« Er musste blinzeln, und ich war der Meinung, dass ich seine Augenlider zuschnappen hörte. »Ich will die andere Seite sehen.«
Mein Lachen über das soeben Gesagte kam auch für mich überraschend: »Das ist cool. Wirklich.«
»Ich habe bereits alles vorbereitet«, sagte er und lehnte sich gegen die mit rotem Stoff überzogene Rückenstütze seines Stuhls. »Ich möchte, das du mit mir kommst.«
Ich hatte bereits vermutet, dass er mir das anbieten würde. »Du bist verrückt. Du warst schon immer wahnsinnig. Mit dir kann ich einfach nicht mithalten.«
»Wo liegt das Problem? Du hast dir das Bein gebrochen, und jetzt hast du kein Interesse mehr am Leben? Das ist erbärmlich. Hannah wäre sicher enttäuscht von dir.«
Bei der Erwähnung ihres Namens jagte ein Stich durch meinen Körper. »Die Dinge ändern sich nun mal.«
»Was hast du überhaupt allein in der Höhle getrieben?«
Dieselbe Frage, die mir bereits Marta gestellt hatte. Diesmal fand ich es noch schwieriger, keine Antwort darauf zu geben.
»Ich hatte nicht über das Risiko nachgedacht. Es war fahrlässig und dämlich.« Nervös kaute ich auf meiner Unterlippe. »Wo befindet sich die Schlucht der Seelen?«
»Nepal. Im Himalaja.«
Ich wäre beinahe vor Lachen erstickt. »Jetzt hast du wirklich den Verstand verloren.«
»Das Ganze wird etwa einen Monat dauern. Du hast Erfahrung beim Eisklettern und bist vertraut mit der Ausrüstung.«
»Mein