»Scheiße«, murmelte ich, als mir dämmerte, wer da vor mir saß.
»Du sagst es«, stimmte Andrew Trumbauer zu, während sein Grinsen breiter wurde.
Immer noch erstaunt, sagte ich: »Als ich dich das letzte Mal sah …«
»Wären wir beide fast gestorben.«
– 3 –
Andrew war ich das erste Mal in einem gänzlich anderen Leben begegnet. In meiner Erinnerung sehe ich ihn genau vor mir, wie er dem Meer entsteigt und auf Hannah und mich zu stolziert, diese seltsame Kreatur, deren Haut so blass ist, dass man fast hindurchsehen kann. Wasserperlen glänzen auf seinem Körper, der so dürr wie der einer Vogelscheuche ist. Sand klebt an seinen nackten Sohlen.
Dieses spezielle Grinsen breitet sich in einem Winkel seines Mundes aus, zieht nach oben und verleiht ihm eine beinahe cartoonartige Entrücktheit. Er hält eine Tüte mit Hundekeksen hoch. Eine Brille hängt an einem festgezurrten Band um seinen Hals und scheint ihm die Luft abzuschnüren, und er ist so unnatürlich, krankhaft blass, dass in meiner Vorstellung seine Haut unter der Sonne zu brutzeln anfängt und ihre Blässe allmählich einen leichten Violettanstrich bekommt, um dann ins Knallrote überzugehen, während er auf der anderen Seite des Strandes auftaucht.
– 4 –
Ich saß Andrew in der Nische gegenüber, noch immer überrascht von unserem zufälligen Aufeinandertreffen.
»Du erinnerst dich doch, oder, Overleigh?«, fragte er wieder in jenem, leise gehauchten Ton.
Die Schatten, die im Zwielicht über sein Gesicht strichen, ließen es aussehen wie ein verwobenes Muster aus tiefen Furchen und geschnittenem Fleisch. Mein Name klang vertraut in seiner Stimme, so als ob wir immer in Kontakt geblieben wären.
»Wir wären fast gestorben?«
»Natürlich.« Die Wörter sprudelten automatisch aus seinem Mund.
Ich hatte keine Ahnung, worüber er da eigentlich sprach. Ich erinnerte mich daran, dass ich Andrew das letzte Mal auf Hannahs Beerdigung vor drei Jahren gesehen hatte.
»Das war ein Ding«, murmelte Andrew, während er einen Ring aus geschlossenem Zigarettenrauch in die Luft ausstieß.
»Jetzt warte mal«, forderte ich ihn auf. »Worüber sprechen wir hier eigentlich?«
Andrew runzelte die Stirn. Es war eine grotesk aussehende Mimik. Sein Gesicht war einfach zu dünn, um diesen fragenden, skeptischen Ausdruck glaubhaft vermitteln zu können. Stattdessen schienen seine Mundwinkel simultan nach unten zu sacken und das Kinn wirkte zerfurcht wie eine Walnuss. »Du erinnerst dich nicht?«
»Nein, ich habe …« Dann brach die Erinnerung wie eine Riesenwelle über mir herein: Andrew hinter dem Steuer, und ich auf dem Beifahrersitz, nachdem wir die Beerdigung verlassen hatten, und wie er im letzten Moment das Lenkrad herumriss, um einem umstürzenden Hochspannungsmast auszuweichen, dessen abgerissene Kabel zuckend über den Asphalt peitschten und tödliche Funken sprühten.
»Der Hochspannungsmast«, hörte ich mich sagen und meine Stimme klang wie aus weiter Ferne. Dieser Vorfall war für mich aufgrund der Beerdigung unbedeutend gewesen.
Andrew hatte sich in den Stuhl gelehnt und ich bemerkte den Ausdruck von erkennender Befriedigung auf seinem Gesicht. Etwas in seinem Blick, ein kurzes Aufblitzen, ich vermochte nicht genau zu sagen was, und ich wendete meine Augen von ihm und starrte hinab auf mein Glas.
Er entschuldigte sich, als sich eine unangenehme Stille zwischen uns gesenkt hatte. »Das war nicht das passende Thema, um nach so langer Zeit ein Gespräch zu starten.«
»Ist schon in Ordnung.«
»Du siehst gut aus.«
Jetzt war es an mir, zu grinsen. »Dummschwätzer. Ich weiß, dass ich aussehe, wie breit getretene Scheiße.«
»Was ist mit deinem Bein passiert?«
Ich erzählte ihm vom Unfall und dass es schlichtweg wahnsinnig gewesen war, so eine Unternehmung allein anzupacken, geschweige denn, niemanden im Vorfeld über meine kleine Expedition aufgeklärt zu haben. Der Knochen war glatt durch die Haut gedrungen. Ich war nur noch ein Bündel Elend gewesen und hatte riesiges Glück gehabt, das gerade ein Auto auf dem Highway entlangfuhr, als ich mich aus der Höhle hinaus auf die Straße schleppen konnte. Womöglich das einzige Auto weit und breit.
»Glück muss man haben«, meinte er, wobei er offenkundig wenig beeindruckt zu sein schien.
»Sechs Monate später«, fuhr ich fort, »hatte ich meine Lektion gelernt. Zumindest bis auf Weiteres.«
»Die Sache mit Lektionen ist die, dass immer neue hinzu kommen.«
Ich fummelte mir eine Zigarette aus seiner Packung und fragte: »Was zur Hölle machst du hier eigentlich?«
»Das Regatten-Rennen.«
»Machst du etwa mit? Verarsche mich nicht. Du hast doch nicht etwa ein Boot?«
»Es ist nicht meins. Ich gehöre lediglich zur Crew.«
»Kannst du denn segeln?«
Natürlich war es eine äußerst dämliche Frage. Andrew Trumbauer war einer jener Vertreter der Spezies Mensch, die einfach alles ausprobierten – den Grand Canyon durchwandern oder in einem verdammten Kajak die Wasser des Nils entlang paddeln.
»Jetzt sag nicht, du hättest nie an dem Rennen teilgenommen?«, fragte er ungläubig, und ignorierte dankenswerterweise meine vorhergehende Frage. »Du lebst doch hier, oder nicht? Du bist doch in deinem Herzen ein Abenteurer. Um das zu erkennen, brauche ich keine Krücken und ein gebrochenes Bein. Immerhin kenne ich dich. Und du hast allen Ernstes bisher nicht an der Regatta teilgenommen?«
Ich zuckte mit den Schultern. »Hatte viel Geschäft in den letzten Jahren.«
»Das ist doch nichts als eine billige Ausrede. Was ist das Verrückteste, dass du jemals getan hast?«
Auch ich hatte mir diese Frage oft selbst gestellt. Nach Hannahs Tod und der zunehmenden Verkümmerung meiner künstlerischen Fähigkeiten hatte ich mein Heil in der Welt des Extremsports gesucht. Sky-Diving, Höhlenwandern, Rafting. Aber ich wusste, dass ich trotz allem nicht mit Andy konkurrieren konnte. Also sagte ich: »Ich bin mal im strömenden Regen raus, um nach der Post zu sehen. Ohne Regenmantel. Äußerst riskant, ich weiß. Aber so bin ich eben.«
Andrew musste lachen und diesmal war sein Gesichtsausdruck authentischer, menschlicher.
»Stellst du immer noch Statuen und Büsten her?«
»Nicht mehr. Ich habe es aufgegeben.«
»So wie du das sagst, klingt es nach nichts Besonderem. Als ob du mit dem Rauchen aufgehört hättest.«
»Nein, das gönne ich mir von Zeit zu Zeit.«
Andrews Grinsen erstarb. »Du meinst es ernst, oder?«
»So ernst wie ein Herzanfall.«
»Himmel, wieso? Du warst großartig?«
»Es gab viele Gründe. Eine Menge komplizierter Scheiße.«
»Das Leben glänzt vor komplizierter Scheiße. Deines unterscheidet sich da nicht von denen anderer.«
Ich fühlte, wie mein Herz von einem kräftigen Windstoß davongetragen wurde. Aus einem dummen, für mich nicht nachvollziehbaren Grund, sagte ich: »Ich sehe Hannah.«
Andrew starrte mich mit einer in den Augen lodernden Intensität an, bei der ich mich unwohl fühlte. »Was sagst du da?«
»Vergiss es einfach.« Ich winkte mit der Hand ab.
»Erzähl