»Doch – du bist doch mein Papi! Kennst du denn dein Lorchen nicht mehr?«
Sanft liebkoste Nikolaus das glänzende Haar des Kindes. Nach und nach verebbte das krampfhafte Zucken in dem kleinen Gesicht.
Die Augen des Kindes fielen zu, die dunklen Wimpern warfen lange Schatten auf die blassen Wangen.
»Lorchen ist müde… so müde!« flüsterte sie. Sie hatte die Ärmchen ganz fest um Nikolaus’ Hals geschlungen und ihr Gesicht innig an ihn geschmiegt. »Wenn Mami kommt, dann weckst du mich, aber jetzt will ich schlafen…«
Ratlos sah Nikolaus reihum. War seine Ähnlichkeit mit dem Bruder wirklich so groß, daß das Kind ihn für den Vater hielt?
Wie kam es überhaupt hierher? Behutsam bettete er es jetzt auf den Diwan.
»Wo ist Jost? Und die Mutter des Kindes?« fragte er leise, als wolle er Lorchens Schlaf nicht stören.
Beklommene Stille herrschte. Dann kam von dorther, wo Leontine Eckhardt steif aufgerichtet saß, ein Geräusch, das sich wie unterdrücktes Schluchzen anhörte.
Nikolaus war darüber so erstaunt, daß er hastig fragte:
»Warum weinst du, Mutter? Was ist mit dem Kind?«
»Jost – ist tot!« hörte er neben sich eine Stimme. Er fuhr herum und blickte in die ernsten Augen Dr. Hartmuts. »Ihre Mutter hat das Kind abgeholt.«
»Sie sagen, Jost ist tot? Das kann doch nicht möglich sein! Sie erklärten uns doch erst vor kurzem, daß Sie wüßten, wo und wie Jost lebt.«
Antwortheischend starrte er den Notar an, der gebeugt vor ihm saß und nach erklärenden Worten suchte.
Sein Schweigen war Nikolaus Antwort genug.
»Unmöglich!« stieß er hervor und suchte sich gewaltsam von dem lähmenden Gedanken loszureißen.
Scheu glitt sein Blick hinüber zu dem friedlich schlummernden Kind, das Josts, des Bruders Kind war, und hier seine Heimat suchte.
Müde ließ er die Schultern hängen. Das gab Kampf, neuen Kampf, denn niemals würde die Mutter das Kind neben sich dulden. Er fühlte seine eigene liebeleere Kindheit, die nun auch Josts Kind erwarten würde.
Nikolaus raffte sich auf. Er sah um Jahre gealtert aus, als er am Tisch erschien und eindringlich bat:
»Erzählen Sie mir alles, Doktor – es muß etwas Furchtbares geschehen sein – «
»Ein Unglücksfall«, fiel der Notar ihm rasch ins Wort, froh, daß die unerträgliche Stille endlich überbrückt war. »Jost wurde durch einen herabfallenden Eisenträger getötet – «
»Und das Kind?« drängte Nikolaus, der das Schwanken des Notars wohl bemerkte. »Sprechen Sie weiter!«
»Frau Petra… das ist die Frau Ihres Bruders, ließ das Kind allein in der Wohnung zurück, wo es Ihre Mutter fand. Vom Krankenhaus weg fehlt jede Spur von Frau Petra Eckhardt. Das heißt, man muß Nachforschungen nach ihr anstellen.«
»Petra!«
Nikolaus Eckhardt sprach den Namen weich, fast innig aus. Er hatte sie mit guten Gedanken umgeben, die Frau seines Bruders. Und er hatte sich auf das Zusammensein mit ihr gefreut.
Jost war tot! Jetzt war es seine Pflicht zu handeln, damit der letzte Wille des Vaters Erfüllung fände.
»Würden Sie mich begleiten, wenn ich meinen Bruder heimhole ins Elternhaus?«
Dr. Hartmut nickte zustimmend.
»Wir müssen auch Petra Eckhardt suchen –«, fuhr Nikolaus mit schwerer, schmerzvoller Stimme fort. »Das Kind muß in die gewohnten Verhältnisse zurück. Hier –«, er sah sich um, »hier würde das Kind erfrieren.«
Dr. Hartmut schluckte krampfhaft.
»Nikolaus, Sie müssen noch eines bedenken«, begann er vorsichtig. »Petra wäre nach der Bestimmung des Testaments die Erbin… wenn – «
»Wenn –?« warf Nikolaus, von neuer Unruhe befallen, ein. »Fällt es Ihnen so schwer, mir die völlige Wahrheit zu sagen?«
Der Notar neigte den schmalen Kopf mit dem weißen Haar.
»Sehr schwer«, kam es leise von seinen Lippen. »Petra Eckhardt darf das Erbe nur antreten, wenn sie dessen würdig ist. Aber wenn sie als Mutter ihr Kind verläßt, scheidet sie als Erbin aus.«
Mit einem Ruck zog Nikolaus die Hand zurück und stützte sich schwer auf die Tischplatte. Entsetzen lag in seinem Blick.
»Unmöglich, Doktor, mein Bruder hat seine – Liebe keiner Unwürdigen geschenkt.«
»Ich wollte, es wäre so«, setzte Dr. Hartmut mutlos hinzu.
Nikolaus wandte sich jäh um und schritt zum Fenster, um seine Erschütterung zu verbergen. Als er sich wieder gefaßt hatte, trat er an das Lager, auf dem das Kind friedlich schlummerte.
»Armes Kind, armes Lorchen!« flüsterte er erstickt.
Entschlossen trat er wieder an den Tisch heran.
»Ich kann es nicht glauben, Doktor. Der Gedanke allein kommt mir ungeheuerlich vor. Mir ist es, als würde mein Bruder über den Tod hinaus mit Schmutz beworfen. Lassen Sie mich handeln. Nur um Ihre Begleitung bitte ich.«
Zustimmend nickte der Notar. Er atmete hastig und erregt. Etwas wie Erlösung glitt über sein tiefernstes Gesicht. Nikolaus’ Worte deckten sich mit seinem eigenen Empfinden.
Sie verabschiedeten sich mit einem festen Händedruck.
»Holen Sie mich morgen früh ab? Ich stehe immer zu Ihrer Verfügung«, sagte er noch.
Nikolaus bedankte sich und sagte zu. Dann begleitete er seinen Bruder zur Tür.
*
Von Gewissensbissen gepeinigt, müde und hungrig betrat Detlef Sprenger seine Stadtwohnung, in der er für gewöhnlich das Wochenende verbrachte. Alles Suchen nach Petra war nutzlos gewesen.
Bei seinem Eintritt erhob sich eine dunkelhaarige Frau aus dem Sessel beim Fenster.
Verstört fuhr er auf.
»Regina?« kam es verwundert von seinen Lippen. Dabei fiel es ihm ein, daß er die Frau seit Stunden hatte warten lassen.
»Du kommst reichlich spät, Detlef«, sagte sie mit leichtem Vorwurf.
Rasch trat er auf sie zu und drückte ihr die Hand.
»Verzeih, Regina, ein gräßliches Unglück ist bei uns geschehen; darüber habe ich alles vergessen.«
»Ein Unglück?«
Regina Reuter blieb dicht vor dem Mann stehen. Wie sah Detlef nur aus? Das Haar hing ihm wirr in die Stirn; auf seiner Kleidung lag eine feine Staubschicht. Er machte den Eindruck, als sei er stundenlang umhergeirrt.
»Willst du mir nichts Näheres darüber sagen?« drängte sie, sich an seine Schulter lehnend.
Detlef Sprenger sah sie an. Unerträglich war ihm jetzt die Nähe dieser Frau.
»Regina, willst du mir das Ausgehen heute nicht erlassen?« bat er mit fremder, tonloser Stimme. »Mein bester Freund, Jost – ist tot!«
Regina riß die Augen weit und ungläubig auf:
»Eckhardt – tot? Ich verstehe nicht!« stieß sie entsetzt hervor, und aufrichtiges Mitleid erfüllte sie. Sie hatte ihn sehr geschätzt, den blonden, fröhlichen Mann.
Aber sie konnte diesen Gedanken nicht zu Ende denken, er wurde von einem anderen erstickt:
»Dann ist ja Petra frei«, sagte sie leise und erschrak im nächsten Augenblick vor ihrer Unbeherrschtheit.
Sprengers Kopf sank tief auf die Brust hinab.