Trotz des Schreckens, den sie soeben durchlebt hat, durchzittert sie der glückliche Gedanke: »Er bekennt sich offen zu mir.«
Sie blickt verstört zu ihm auf, der sich mit beiden Händen auf ihren Schreibtisch stützt. »Es handelt sich um Doktor Romberg.«
»Soo –?« fragt er gedehnt, als interessiere ihn das weiter nicht. »Ist was passiert?« setzt er doch fragend hinzu, als er deutlich genug aus den Mienen Magdas und des Arztes Mißbilligung liest.
»Ja«, erwidert Müller trocken. »Es gibt allem Anschein nach in diesem Haus Leute, die sich als Denunzianten betätigen. Weiter ist gar nichts passiert.«
»Klatsch«, macht Freytag verächtlich. »Seit wann geben Sie etwas darauf, Herr Kollege?«
»Seit es um unseren allseits verehrten Oberarzt Doktor Romberg geht«, gibt Dr. Müller spöttisch zur Antwort. Er wirft einen seltsamen, beinahe mitleidigen Blick auf die Oberschwester und geht.
»Komische Nudel«, unterbricht Freytag die eingetretene Stille.
In Magdas Augen flammt es auf. »Ich finde ihn durchaus nicht komisch, Martin.«
»Oho!« Freytag betrachtet Magda belustigt. »Seit wann setzt du dich so warm für den Leisetreter ein?«
»Er ist auch kein Leisetreter«, ereifert sich Magda, und in diesem Augenblick gefällt sie ihm beinahe wirklich. »Er ist der ehrlichste und aufrichtigste Kollege.«
Freytag spürt es heiß und zornig in sich aufsteigen. Aber er beherrscht sich. Er wendet seine Methode an, die ihn immer zum Ziel geführt hat. Er legt den Arm um Magda, preßt sie an sich und verschließt ihr den Mund mit einem heißen Kuß.
»Was gehen uns diese Dinge an, Magda«, flüstert er ihr zu. »Wir haben mit uns genug zu tun. Meinst du nicht auch?«
Die Oberschwester befreit sich schnell aus seinem Arm, rückt ihr Häubchen zurecht und geht zum Spiegel. Ein paar Locken haben sich gelöst und fallen in ihre hohe Stirn. Energisch versteckt sie das Haar unter der Haube. »Ich bin im Dienst, Martin«, erklärt sie ihm ärgerlich. Dabei brennen seine Lippen immer noch wie Feuer auf ihrer Haut, obwohl er gelassen und lächelnd mit dem Rücken gegen das Fenster lehnt.
»Richtig, Magda. Ich bin gekommen, dich um ein paar Ampullen für einen ambulanten Patienten zu bitten. Ich mußte ihm neulich die Hand aufschneiden. Er hat unerträgliche Schmerzen.«
»Ein paar?« fragt sie rasch. »Genügt nicht vorläufig eine?«
Er lächelt hintergründig. »Meinetwegen auch eine. Dann habe ich Grund, dich bald wieder aufzusuchen.«
Gewissenhaft notiert sie Namen und Adresse des Patienten, die Freytag ihr nennt, in das Morphiumbuch und händigt ihm die Ampulle aus.
»Wiedersehen, Liebling!«
Sie lächelt ihm herzlich zu, dann konzentriert sie sich mit allem Willen auf ihre Arbeit.
*
Sybilla Sanders steht blaß und mit vor Erregung verdunkelten Augen vor dem Oberarzt.
»Es ist so, Herr Doktor. Das Röntgenbild ist nicht da – einfach nicht aufzufinden – verschwunden.«
»Haben Sie auch gründlich gesucht?« stellt er die Gegenfrage.
»Doktor Müller hat sich an der Suche beteiligt, auch die Oberschwester und – ich. Wir haben es nicht finden können.«
»Merkwürdig, allerdings sehr merkwürdig.« Doktor Romberg denkt ein paar Minuten scharf nach und meint dann: »Wer sollte das Bild verlegt haben? Ein kleiner Kreis hat es doch nur in der Hand gehabt.« Dann winkt er ab. »Übrigens ist es gar nicht so wichtig, obgleich es mir ein Rätsel ist.«
»Es ist aber sehr wichtig«, behauptet Doktor Sanders ernst. In ihren bernsteinfarbenen Augen tanzen goldene Pünktchen, und ihre Wimpern flattern.
Jetzt weiß er schon, daß sie sehr erregt ist. Er packt sie an den Schultern und zwingt sie, ihn anzusehen. »Doktor Sanders«, sagt er und ihre Erregung überträgt sich allmählich auch auf ihn. »Verschweigen Sie mir etwas?«
Sie antwortet nicht, und hastig spricht er weiter: »Weshalb interessieren Sie sich überhaupt für das Röntgenbild des toten Stücker?«
Sybillas Zunge fährt rasch über ih-
re trockenen Lippen. »Weil – weil – ach –«
Sie befreit sich von seinem Griff und läßt sich in den Sessel fallen.
Jetzt ist Doktor Romberg stutzig geworden. Er steht rasch vor ihr, neigt sich zu ihr hinab und legt seine Hände auf die Lehne des Sessels. »Was wird hinter meinem Rücken gespielt?«
»Das Röntgenbild – ist – verschwunden«, kommt es stockend aus ihrem Mund.
»Mein Gott«, sagt er ärgerlich und schlägt mit der Linken auf die Sessellehne. »Das haben Sie mir schon ein paarmal gesagt. Weshalb sind Sie so außer sich? Keine Ausrede, bitte.« Das klingt schroff und macht sie noch verstörter als sie schon ist. »Sagen Sie mir die Wahrheit.«
»Professor Becker ist von der Reise zurück.«
Als sei es das Stichwort und Romberg müßte sich auf die Bühne begeben, erscheint Schwester Annegret in der Tür und ruft Romberg zu: »Herr Doktor, Sie werden von dem Professor verlangt.« Romberg findet den Professor nicht allein vor. Doktor Freytag ist bei ihm. Der Professor ist eine große, hagere Erscheinung. So weiß wie sein Kittel ist auch sein Gesicht. Die hohe Stirn läuft in einer Glatze aus. Das Weiß wird nur durch die dunklen Augen und den kleinen schwarzen Lippenbart unterbrochen. Auf den ersten Blick macht er einen etwas unheimlichen Eindruck. Aber wer ihn näher kennt, weiß, wie tüchtig er ist, wie sehr er in seinem Beruf aufgeht und mit welch großem Einfühlungsvermögen er seine Patienten behandelt. Jeder hat das Gefühl, der Professor sei allein für ihn da.
Romberg verehrt den Mann, von dem er enorm viel gelernt hat und dessen Vorbild er nachstrebt.
Ein kurzer Seitenblick streift Freytag. Der räkelt sich in seinem Sessel, daß es Romberg heiß hochkommt. Manieren hat der Junge! Unverständlich, wie sich der Professor so für diesen Schwächling einsetzen kann.
Ohne Freytag zu beachten, reicht er dem Professor die Hand. »Es freut mich, daß Sie wieder zurück sind, Herr Professor. Hatten Sie eine gute Reise? Und haben Sie interessante Neuigkeiten mitgebracht?«
Auch der Professor freut sich, seinen Oberarzt wiederzusehen. »Hat etwas länger gedauert, als ich vermutete. Bitte –«. Er macht eine einladende Handbewegung zu dem freien Sessel hin und nimmt selbst Platz.
Romberg ist sehr verwundert. Noch nie war Freytag anwesend, wenn der Professor ihm nach einem Kongreß, an dem er teilgenommen hat, berichtete.
In Freytag kocht es, da Romberg ihn wie Luft behandelt. Er wird ihm diese Hochnäsigkeit eintränken – nimmt er sich vor. Nach außen hin ist er der fröhliche, unbekümmerte Arzt, den nichts so leicht erschüttern kann.
Professor Becker beginnt die Unterredung – und Freytag sitzt mit undurchdringlicher Miene, innerlich frohlockend, dabei.
*
Doktor Müller verfolgt das Bild auf Schritt und Tritt: Oberschwester Magda – und dieser Windhund, der Freytag, wie er sie auf die Wange küßt.
Er liebt die Oberschwester schon lange. Nur seine angeborene Schüchternheit hat ihn daran gehindert, sich ihr zu nähern. Wie kann sich ein so
feinempfindender Mensch wie Magda in die Hände dieses jungen Arztes geben?
Er verrichtet an diesem Tag seine Arbeit wie im Traum. Ein paarmal gibt er Doktor Sanders verkehrte Antworten. erschrickt und verbessert sich rasch.
Sybilla