Die wichtigsten Werke von Richard Voß. Richard Voß. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Richard Voß
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9788027223008
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dieses Emeutensystem billigen. Das dient nur dazu, die Reaktion von seiten des Staates zu verstärken und jede Propaganda auf friedlichem Wege unmöglich zu machen. Wir dürfen weder den blutdürstigen Appetit unserer Feinde wecken, noch Anklagen gegen unser gewalttätiges Vorgehen hervorrufen. Die bis jetzt eingeschlagenen Wege können uns nur schaden, dem Feinde nur nützen. Und glaubt mir: die Emeuten reizen gegen uns auf, nicht nur das Publikum und die gesamte russische Presse, sondern auch die ausländischen Mächte. Um also die Lage der Dinge kurz zusammenzufassen, möchte ich mich dahin aussprechen, daß die von euch angewandten Mittel kein anderes Resultat haben werden, als das unnütze Aufopfern von Menschenleben. Das einzige Mittel, mit dem wir zum Ziele gelangen können, ist die friedliche Propaganda durch Wort und Buchstaben.«

      »Keine Bücher, denn das Volk kann nicht lesen,« protestierten einige Stimmen.

      »Wir werden es lesen lehren,« rief der Gemäßigte, »Außerdem sorgen wir für mündliche Verbreitung, Und dann – – «

      Aber er kam nicht weiter. Ein Tumult entstand. Wladimir Wassilitsch mußte beruhigen, was er mit vieler Klugheit und Umsicht tat.

      Darauf begann er: »Balkulin übersieht, daß wir die friedliche Propaganda durchaus nicht ausschließen. Wir betrachten sie sogar als die Hauptsache. Aber neben dieser Propaganda auf dem Lande müssen wir Propaganda in den Städten machen, und dazu sind die Emeuten das beste Mittel. Das Volk liebt Taten. Es wird nur dann Vertrauen zu uns haben, wenn den Worten die Handlung folgt.«

      »Aber damit richten wir unsere Bestrebungen zugrunde,« warf Balkulin gelassen ein.

      Wera wandte dem Sprecher ihr Gesicht zu; sie wäre am liebsten zu ihm gegangen und hätte ihm die Hand gedrückt oder sich auch nur ruhig an seine Seite gestellt.

      »Mißversteht mich nicht,« fuhr der Gemäßigte fort. »Ich fasse die Anarchie auf wie ihr, und glaube an ihren endlichen Triumph. Aber dieser liegt für mich in einer fernen, ungewissen Zukunft. Um den Gedanken der Anarchie zu verwirklichen, muß sie von der ganzen Welt angenommen werden, aus freiem Willen, aus dem menschlichen Antriebe aller. Denn die Anarchie kann nicht durch Gewalt eingesetzt werden. Wie wollt ihr, daß der Bauer von heute, der ganz absorbiert ist von seinem, ihn niederdrückenden Tagewerk, sich zu euren humanen Ideen erhebe? Um die anarchistische Freiheit zu begreifen, muß man frei sein von jedem sozialen und religiösen Vorurteil und außerdem Muße genug für Studien übrig haben. Ich sage euch noch einmal: Was mich betrifft, so halte ich in diesem Augenblicke die Anarchie für unausführbar! wir müssen ihr als Vorgänger erst Reformen vorausschicken.«

      »Es ist keine Stunde her,« rief ein Propagandist, »daß ich Landleute sagen hörte: Das, was uns not tut, sind weniger Steuern und mehr Land; haben wir das erst, so wollen wir dem Zaren dienen und ihm zu Hilfe kommen, wenn er uns braucht, vorausgesetzt, daß er auch uns zu Hilfe kommt, wenn wir Mißernten haben.«

      »Fragt doch Balkulin, wer seine Reformen herbeiführen soll?« rief Wladimir Wassilitsch.

      »Der Zar,« erwiderte Balkulin mit starker Stimme.

      Alle tobten und lachten.

      Wladimir schrie: »Die Reformen des Zaren? Wir wissen, zu was sie führen. Seht als Beispiel die Aufhebung der Leibeigenschaft, die als Resultat das Proletariat in Rußland hervorrief.«

      »Ich stimme mit Wladimir Wassilitsch überein,« meinte der Gemäßigte, »darin stimme ich mit ihm überein, daß die Aufhebung der Leibeigenschaft nur den Herren genützt hat. Aber warum hat sie dem Volke nichts genützt? Weil sie nicht vom Volke ausging, sondern unter dem Einfluß der aristokratischen Partei zustande kam, die nur ihre eigenen Interessen wahrt. Der Adel allein ist das Unglück Rußlands. Laßt den Zaren von edlen Geistern beeinflußt sein, und alle die unter der Regierung Alexanders II. ins Werk gesetzten Reformen werden einen Fortschritt, ein Vorwärtsschreiten nach der freien Zukunft bedeuten.«

      – Ein Tumult erhob sich. Alles schrie durcheinander, es gab einen Höllenlärm. Wera sah sich nach Sascha um und entdeckte endlich seine große Gestalt zusammengedrückt in einem Winkel. Des Qualms wegen konnte sie sein Gesicht nicht erkennen; doch war ihr, als ob er zu ihr herüberblicke. Sie nickte ihm zu, ohne eine Erwiderung ihres Grußes zu erhalten. Erschrocken sah sie auf, als sich unter den Frauen ein Mädchen erhob, sichtlich in der Absicht, gleichfalls zu reden. Sie schien viel jünger als Wera, der sie durch ihr leidendes Aussehen längst aufgefallen war. Die arme gebrechliche Gestalt schien kaum Lebenskraft genug zu besitzen, um sich aufrecht zu halten, das Gesicht war von Krankheit und Seelenschmerzen entstellt, überdies hielt sie das einzige, was in diesem wachsbleichen, kummervollen Antlitz schön war, ihre Augen, hinter grünen Brillengläsern versteckt. Ihr tiefschwarzes, ungewöhnlich starkes Haar trug sie rund um den Kopf abgeschnitten, ohne jeden Versuch einer Frisur. Sie ging überaus nachlässig, in grobe Gewänder gekleidet, die eher den Zuschnitt eines Kaftans als den eines Frauenkleides zeigten. Sie hatte weiße, schlanke, vornehme Hände, mit denen sie, wie Wera später erfuhr, die gröbsten Arbeiten verrichtete. Dieses Mädchen hatte sich erhoben und wollte reden; aber ihre matte Stimme verhallte ungehört in dem wüsten Lärm. Sie stand so hilflos da, sie sah so schwach und hinfällig aus, daß Wera jeden Augenblick erwartete, sie umfallen zu sehen, und von heftigem Mitleid ergriffen wurde. Da rief jemand: »Ruhe! Natalia Arkadiewna will reden.« Sogleich trat Stille ein. Das kranke Mädchen wurde das Ziel aller Blicke. Sascha kam aus seiner Ecke hervor, sogar Wladimir trat näher. Wera glaubte zu bemerken, wie Natalia Arkadiewna bei seinem Anblick zusammenfuhr und heftig zu zittern begann. Was hat sie mit Wladimir Wassilitsch, dachte Wera. Sie kann gewiß kein Wort vorbringen, sie wird besinnungslos werden.

      Aber Natalia Arkadiewna blieb stehen und begann ihre Rede mit sanfter, klagender Stimme, die Wera zu Herzen drang. Anfänglich vermochte sie nicht zuzuhören, denn ihre Nachbarin teilte ihr flüsternd mit, wer diese Natalia Arkadiewna sei.

      »Die Tochter des Geheimen Staatsrats Michael Danilitsch Niklakow und der Fürstin Marsa Jurjewna Leontow. Sie hat sich für das Volk von ihrer Mutter verfluchen und von ihrem Vater verstoßen lassen. Anna Pawlowna nahm sie auf, Anna Pawlowna ist nämlich ihre Tante. Ehe sie krank wurde – ich glaube, sie hat die Auszehrung – soll sie sehr schön gewesen sein. In ihr Haar konnte sie sich bis zu den Füßen einhüllen. Als sie eine der Unseren ward, schnitt sie es ab, verkaufte es und streute den Erlös unter das Volk auf der Straße aus: ›Das ist alles, was ich euch geben kann.‹ Noch vor einem Jahr war sie gesund. Aber sie läßt sich die schwersten Arbeiten auftragen und sich im Winter aufs Land verschicken, um unter dem Volk Propaganda zu machen, immer zu Fuß und ohne Pelz. Wladimir Wassilitsch fand sie einmal beinahe erfroren auf der Landstraße. Die Bauern, die sie gegen ihren Herrn aufreizen wollte, hatten sie geschlagen, daß sie für tot hinsank. Seitdem ist sie so elend. Aber sie läßt sich keine Zeit zum Kranksein und ist eifriger als je. Lange wird sie es nicht mehr machen. Dann kommt eine andere an ihre Stelle. Alt werden wir alle nicht. Entweder verschicken sie uns nach Sibirien oder wir kommen sonst um. Was tut's?«

      Natalia Arkadiewna sprach.

      »Ich rede im Namen meiner Schwestern und Gesinnungsgenossinnen.

      Größer als die Unfreiheit des Mannes ist diejenige der Frau – folglich bedürfen wir einer größeren Erhebung.

      Die Zivilisation hat an der Frau Verbrechen über Verbrechen begangen.

      Indem man uns für das Haus, für den Herd und den Mann bestimmte, verurteilte man uns zu ewiger Leibeigenschaft. Wohin ein solcher Zustand führt, sehen wir am russischen Volke: es ist ein Volk von Unfreien, von Kreaturen, von geistig Verkrüppelten. Nun wohl: kreaturenhaft, unfrei, geistig verkrüppelt ist auch die Frau. Seit Jahrtausenden wird unsere Gattung durch die Bestimmung, der eine abscheuliche Willkür sie übergab, tyrannisiert, also demoralisiert. Wir verkümmern.

      Weil wir nur für die Bequemlichkeit, für die Eitelkeit und die Leidenschaften der Männer da sind, werden alle unsere Organe, unsere Talente und Fähigkeiten nach dieser Richtung hin entwickelt. Das Höchste, was die Frau durch solche Erziehung erreichen kann, ist leibliche Schönheit und Begabung für Haus, Herd und Wiege. Die Frauen sind nicht die Genossinnen der Männer, sondern ihre Putzgegenstände, ihre Haushälterinnen, die Ammen ihrer Kinder.

      Wir sind nicht Gattung,