»Barbara«, sagte sie, »könntest du mir nicht noch etwas Brot und Butter bringen? Es ist nicht genug für drei.«
Barbara ging hinaus. – Gleich darauf kam sie zurück.
»Madame, Mrs. Harden sagt, sie habe die gewöhnliche Portion heraufgeschickt.«
Ich muss bemerken, dass Mrs. Harden die Haushälterin war, eine Frau nach Mr. Brocklehursts Herzen, die aus gleichen Teilen Fischbein und Eisen zusammengesetzt war.
»Schon gut, schon gut!« entgegnete Miss Temple; »dann muss es wohl für uns genug sein, Barbara.« Als das Mädchen fort war, fügte sie lächelnd hinzu: »Glücklicherweise liegt es in meiner Macht, dem Mangel dieses eine Mal noch abzuhelfen.«
Nachdem sie Helen und mich aufgefordert hatte, uns an den Tisch zu setzen, und jeder von uns eine Tasse heißen Tee’s und eine Scheibe köstlichen gerösteten Weißbrots gegeben hatte, erhob sie sich, öffnete eine Schieblade, nahm aus derselben ein in Papier gewickeltes Paket und enthüllte vor unseren Augen einen großen, prächtigen Krümelkuchen.
»Ich hatte die Absicht, jeder von euch ein Stück hiervon mit auf den Weg zu geben«, sagte sie, »da man uns aber so wenig Toast bewilligt hat, sollt ihr es jetzt schon haben«, und sie begann mit großmütiger Hand, den Kuchen in Scheiben zu schneiden.
Wir schmausten an diesem Abend wie von Nektar und Ambrosia; und es war nicht die kleinste Freude dieses Festes, dass unsere Wirtin uns mit freundlich zufriedenem Lächeln zusah, wie wir unseren regen Appetit an den köstlichen Leckerbissen, welche sie uns vorsetzte, stillten. Als der Tee getrunken und der Tisch abgeräumt war, rief sie uns wieder an den Kamin; wir setzten uns an jede Seite von ihr, und jetzt folgte ein Gespräch zwischen Helen und ihr, welchem lauschen zu dürfen allerdings eine Begünstigung war.
Miss Temple hatte stets etwas von Seelenfrieden in ihrem Äußeren, von Hoheit in ihrer Miene, von geläutertem Anstand in ihrer Sprache, welches jede Abweichung in das Feurige, Erregte, Ungestüme ausschloss – ein Etwas, welches die Freude jener heiligte, welche ihr zuhörten, welche sie anblickten, und allen ein Gefühl der Ehrfurcht einflößte. In diesem Augenblick war es auch meine Empfindung: – was aber Helen Burns anbetraf, so überraschte sie mich aufs höchste.
Das erfrischende Mahl, das wärmende Feuer, die Gegenwart ihrer geliebten Lehrerin oder vielleicht mehr als alles dieses etwas in ihrem eigenen seltenen Gemüt, hatte alle Kräfte und Gaben in ihr geweckt. Sie erwachten, sie entflammten; zuerst glühten sie in den strahlenden Farben ihrer Wangen, welche ich bis zu dieser Stunde niemals anders als bleich und blutleer gekannt hatte; dann strahlten sie in dem feuchten Glanz ihrer Augen, welche plötzlich eine Schönheit bekommen hatten, die noch eigentümlicher war, als jene Miss Temples – eine Schönheit, die weder in der schönen Farbe noch in den langen Wimpern oder den herrlich gezeichneten Augenbrauen lag, – sondern in dem Ausdruck, in der Bewegung, in dem Glanz. Jetzt trug sie das Herz auf der Zunge und die Sprache floss – aus welcher Quelle weiß ich nicht – denn hat ein vierzehnjähriges Mädchen ein Herz, das groß genug, stark und kräftig genug ist, um den brausenden Quell der reinen, vollen, feurigen Beredsamkeit fassen zu können? Dies war die Eigenart von Helens Gesprächsweise an diesem mir unvergesslichem Abende; es war, als wolle ihr Geist sich beeilen, in einer kurzen Spanne Zeit ebenso voll und ganz zu leben, wie die meisten Menschen während eines langen Daseins.
Sie sprachen über Dinge, von denen ich niemals gehört hatte; von längst geschwundenen Zeiten und Nationen; von fernen Ländern, von entdeckten oder nur geahnten Naturgeheimnissen – sie sprachen von Büchern. Wie viele sie gelesen hatten! Welchen reichen Schatz von Kenntnissen sie besaßen! Dann schienen sie so vertraut mit französischen Namen und französischen Schriftstellern; aber mein Erstaunen stieg aufs höchste, als Miss Temple Helen fragte, ob sie zuweilen einen freien Augenblick erübrigen könne, um das Latein, welches ihr Vater sie gelehrt hatte, zu wiederholen; dann nahm sie ein Buch von einem Bücherbrett und bat sie, eine Seite des Virgil zu lesen und zu übersetzen; Helen gehorchte und mein Sinn für Verehrung und Hochachtung erweiterte sich, während ich lauschte. Kaum hatte sie geendet, als die Glocke ertönte, welche die Zeit des Schlafengehens verkündete; wir durften nicht länger verweilen; Miss Temple umarmte uns beide und sagte während sie uns an ihr Herz zog:
»Gott segne euch, meine Kinder!«
Helen hielt sie ein wenig länger ans Herz gedrückt als mich; sie ließ sie widerstrebender von sich; Helen folgte ihr Auge bis an die Tür; ihr galt der traurige Seufzer, welcher ihre Brust hob, ihr die Träne, welche sie schnell zu trocknen bemüht war.
Als wir das Schlafzimmer erreichten, hörten wir Miss Scatcherds Stimme; sie sah nach, ob die Schiebladen in Ordnung waren; gerade hatte sie jene von Helen Burns herausgezogen, und als wir eintraten, wurde Helen mit einem scharfen Verweise begrüßt und die Lehrerin kündigte ihr an, dass sie am folgenden Tage mit einem halben Dutzend unordentlicher Dinge an die Schulter geheftet umher gehen werde.
»Meine Sachen befanden sich allerdings in einer empörenden Unordnung«, flüsterte Helen mir zu, »ich hatte die Absicht gehabt aufzuräumen, aber ich vergaß es.«
Am nächsten Morgen schrieb Miss Scatcherd mit weithin sichtbaren Buchstaben auf ein Stück Pappe das Wort »Schlampe« und band es wie einen Denkzettel um Helens große, intelligente und milde Stirn. Geduldig und ohne Murren trug sie es bis zum Abend, es wie eine verdiente Strafe ansehend. Kaum hatte Miss Scatcherd sich nach den Nachmittags-Unterrichtsstunden zurückgezogen, als ich auf Helen losstürzte, es herabriss und es ins Feuer warf. Die Wut, deren sie nicht fähig war, hatte den ganzen Tag über in meiner Seele getobt, und große, heiße Tränen hatten fortwährend meine Wangen genetzt; denn der Anblick ihrer traurigen Resignation gab mir einen unerträglichen Stich ins Herz.
Ungefähr eine Woche nach den oben erwähnten Erzählungen erhielt Miss Temple, welche an Mr. Lloyd geschrieben hatte, dessen Antwort; wie es schien, ergänzte das, was er sagte, meinen Bericht. Miss Temple rief die ganze Schule zusammen und verkündete, dass die Anklagen, welche gegen Jane Eyre erhoben, genau und sorgfältig untersucht worden, und dass sie glücklich sei, mich von jeder Schuld freisprechen zu können. Darauf schüttelten die Lehrerinnen mir die Hände und küssten mich, und ein Murmeln der Freude lief durch die Reihen meiner Gefährtinnen.