»Ich bin über sechzig, Herr«, entgegnete Toby.
»O, dieser Mann ist ein gutes Stück über das mittlere Alter hinaus«, sagte Mr. Filer unterbrechend, als wenn seine Geduld zwar fast unerschöpflich sei, dies aber heißt die Sachen ein wenig zu weit treiben.
»Ich sehe, ich störe hier«, sagte Toby. »Ach – ich fürchtete dies schon heute morgen. O du lieber Himmel!«
Der Ratsherr fiel ihm in die Rede, indem er ihm den Brief übergab. Toby würde vielleicht einen Schilling bekommen haben; da aber Mr. Filer klar bewies, daß er in diesem Falle eine gewisse Anzahl von Personen, um so und so viel die Person, berauben würde, bekam er bloß einen halben Schilling und er war noch sehr froh, diesen zu erhalten.
Dann reichte der Ratsherr jedem seiner Freunde einen Arm und entfernte sich hochmütig; sogleich aber kam er allein zurück, als wenn er etwas vergessen hätte.
»Packträger«, sagte der Ratsherr.
»Herr«, erwiderte Toby.
»Nehmt Eure Tochter gut in acht. Sie ist viel zu hübsch!«
»Selbst ihr hübsches Gesicht muß sie jemandem gestohlen haben«, dachte Toby und sah sich seinen halben Schilling an, während er an die Kaldaunen dachte. »Sie hat wahrscheinlich fünfhundert Damen jeder einen Reiz gestohlen. Es ist schrecklich!«
»Sie ist viel zu hübsch, Mann«, wiederholte der Ratsherr. »Die Dinge stehen so, daß Eure Tochter kein gutes Ende nehmen wird, das sehe ich schon. Merkt Euch, was ich sage. Nehmt sie gut in acht!« Damit eilte er wieder fort.
»Unrecht überall; unrecht überall!« sagte Toby und schlug die Hände zusammen. »Von Natur sind wir böse und haben keine Ursache auf der Welt zu sein!«
Während er diese Worte sagte, klangen die Glocken auf ihn nieder. Voll, laut und klangvoll, doch nicht trostbringend. Nein, nicht im mindesten.
»Die Weise klingt ganz anders«, sagte der alte Mann, als er wie immer lauschte. »Nicht ein Wort von all den Einbildungen kommt darin vor. Warum sollte es auch? Das neue Jahr geht mich ebensowenig an als das alte. Wenn ich nur erst tot wäre!«
Immer noch ließen die Glocken ihren Klang erschallen, daß die Luft ordentlich voll davon zu sein schien. »Ausrotten, ausrotten! Alte gute Zeit, alte gute Zeit! Tatsachen und Zahlen, Tatsachen und Zahlen! Ausrotten, ausrotten!« Das sagten sie, wenn sie überhaupt etwas sagten, bis es Toby schwindelte.
Er preßte seinen verstörten Kopf zwischen die Hände, als wenn derselbe auseinander springen wollte. Und das tat er zur rechten Zeit, denn er fand in einer den Brief, und da ihn dies an seinen Auftrag erinnerte, fiel er mechanisch in seinen gewöhnlichen Tritt und trabte fort.
Zweites Viertel
Der Brief, den Toby vom Ratsherrn Cute erhalten hatte, war an einen großen Mann in dem großen Distrikt der Stadt adressiert. In dem größten Distrikt der Stadt, hätte ich sagen sollen, denn er hieß bei seinen Bewohnern gewöhnlich »die Welt«.
Der Brief schien in Tobys Hand mehr zu wiegen als ein anderer Brief. Nicht weil der Ratsherr denselben mit einem großen Wappen und unendlich viel Siegellack versiegelt hatte, sondern wegen des gewichtigen Namens auf der Adresse und des vielen, vielen Goldes und Silbers, das sich daran knüpfte.
»Wie so ganz anders als bei uns!« dachte Toby in aller Einfalt, als er seine Blicke in dieser Richtung warf. »Dividiere die lebendigen Schildkröten der Stadt mit der Zahl der Vornehmen, die sie kaufen können, und er erhält nichts als seinen Teil! Den Leuten die Kaldaunen vor dem Munde wegzunehmen – dazu würde er zu stolz sein!«
Mit unwillkürlicher Ehrfurcht vor einer so hohen Person schob Toby einen Zipfel seiner Schürze zwischen den Brief und seine Finger.
»Seine Kinder«, sagte Toby, und in seine Augen traten fast Tränen, »seine Töchter – große Herren können um ihr Herz werben und sie heiraten; sie können glückliche Frauen und Mütter werden; sie können hübsch sein wie meine Meg –«
Er konnte ihren Namen nicht aussprechen. Die Endsilbe schwoll in seiner Kehle zur Größe des ganzen Alphabets an.
»Schon gut«, dachte Toby, »ich weiß, was ich meine. Das ist mehr als genug für mich.« Und unter diesem tröstlichen Gedanken trabte er weiter.
Es war an dem Tage sehr kaltes, schneidendes Wetter. Die Luft war scharf und klar. Die Wintersonne, obgleich ihr keine Wärme entströmte, blickte glänzend nieder auf das Eis, das nicht zu schmelzen imstande war, und umgab es mit einem strahlenden Heiligenschein. Ein anderes Mal hätte Trotty von der Wintersonne eine Lehre für arme Leute entnehmen können; aber heute war sein Gemüt zu sehr verstört.
Das Jahr war heute alt. Das geduldige Jahr hatte die Vorwürfe und Lästerungen seiner Verleumder von Anfang bis zum Ende ertragen und getreulich seine Arbeit verrichtet. Frühling, Sommer, Herbst, Winter. Es hatte seinen vorgeschriebenen Kreis durchlaufen und legte nun sein müdes Haupt nieder, um zu sterben. Selber ohne Hoffnung, ohne irgendwelchen Impuls, ohne eigenes Glück, wohl aber Herold vieler Freuden für andere, rief es, da es nun alt geworden war, die Menschen auf, daß sie an seine mühevollen Tage und langweiligen Stunden denken und es in Frieden sterben lassen sollten. Trotty hätte in dem scheidenden Jahre das Bild eines armen, alten Mannes sehen können; aber er war heute zu verwirrt und traurig.
In der Straße war viel Leben, und die Läden waren glänzend geschmückt. Das neue Jahr wurde wie ein junger Erbe der ganzen Welt mit Willkommensgrüßen, Geschenken und Freudenbezeugungen erwartet. Da gab es Bücher und Schmuck für das neue Jahr, glitzerndes Geschmeide für das neue Jahr, Kleider für das neue Jahr, Mittel reich zu werden für das neue Jahr, neue Erfindungen, um es angenehm zu verleben. Sein Leben war in Kalendern und Taschenbüchern genau eingeteilt. Das Aufgehen seines Mondes, seiner Sterne und seiner Zeitabschnitte war im voraus bis auf jede Minute bekannt; alle Veränderungen seiner Jahreszeiten bei Tag und Nacht waren mit solcher Genauigkeit bestimmt, wie Mr. Filer Männer und Weiber summieren konnte.
Das neue Jahr, das neue Jahr! Überall das neue Jahr! Das alte Jahr wurde bereits als tot angesehen, und seine Habseligkeiten wurden so wohlfeil losgeschlagen, wie die Sachen eines ertrunkenen Seemanns. Seine Musterkollektion war vom letzten Jahr und wurde geopfert, ehe es noch den letzten Atem ausgehaucht. Seine Schätze waren ein bloßes Nichts neben den Reichtümern seines noch ungeborenen Nachfolgers.
Trotty hatte in seinen Gedanken keinen Raum weder für das neue noch für das alte Jahr.
»Ausrotten, ausrotten, Tatsachen und Zahlen, Tatsachen und Zahlen, alte gute Zeit, alte gute Zeit, ausrotten, ausrotten!« nach diesem Motto richtete sich sein Trab und wollte sich keinem andern anpassen.
Aber auch dieses Motto, so schwermütig es war, brachte ihn zur rechten Zeit an das Ende seines Weges, an das Haus des Parlamentsmitgliedes Sir Joseph Bowley.
Ein Portier öffnete die Tür. Aber welch ein Portier! Nicht von Tobys Art. Er war etwas ganz anderes. Obgleich seiner Stellung nach ebenfalls Lohndiener, war er dennoch keiner in der Art von Toby.
Dieser Portier keuchte gewaltig, ehe er sprechen konnte; er war außer Atem gekommen, indem er sich unvorsichtig aus seinem Lehnstuhl erhoben hatte, ohne sich erst Zeit zu nehmen, darüber nachzudenken und sich darauf vorzubereiten. Als er die Stimme wiedergefunden hatte – was ihm eine geraume Zeit kostete, denn sie war einen weiten Weg fort und lag unter einer Last Fleisch versteckt – sagte er in einem heisern Wispern: »Von wem ist er?«
Toby sagte es ihm.
»Dann müßt Ihr ihn selbst hineintragen«, sagte der Portier und zeigte nach einem Zimmer am Ende eines langen Ganges, das aus der Halle führte. »Alles geht am heutigen Tage grade hinein. Ihr kommt nicht einen Augenblick zu früh, denn der Wagen steht bereits vor der Tür, und sie sind bloß auf ein paar Stunden in die Stadt gekommen.«