Feste und Gedenktage im Jahreszyklus
Einleitung
Das Judentum ist trotz der vergleichsweise geringen Anzahl seiner Bekenner (ca. 13 Millionen Menschen auf der Welt sind jüdischen Glaubens) eine überaus lebendige und vielgestaltige Weltreligion. Jüdische Gemeinden sind heute in allen Teilen der Erde anzutreffen.
Das Judentum ist die älteste monotheistische Weltreligion. Seine wichtigsten Voraussetzungen und Grundlagen sind der strenge Monotheismus, d. h. der Glaube an den einen und einzigen Gott Israels, und die zentrale Bedeutung der als unmittelbar von Gott geoffenbart geltenden fünf Bücher Moses, der Tora. In dem vorliegenden Buch soll in differenzierend gewichtender Weise aktuelles Grundwissen über wesentliche und beispielhafte Aspekte des Judentums vermittelt werden. Diese Vermittlung geschieht aus drei Blickwinkeln. Das erste Kapitel soll zunächst in Raum und Zeit orientieren, indem wichtige Phasen und Ereignisse in der bewegten Geschichte des Judentums als eines komplexen kulturellen Systems von seinen nachbiblischen Anfängen bis in die Gegenwart knapp und übersichtlich dargestellt werden, ohne dabei die Geschehenszusammenhänge aus den Augen zu verlieren. Die Darstellung des Judentums im Altertum konzentriert sich auf die drei antiken Zentren jüdischen Lebens in Babylonien, im Mutterland und in Ägypten, von denen jedes seinen eigenen Beitrag zur Entwicklung des jüdischen Glaubens geleistet hat. Schwerpunkte bei der Skizzierung jüdischen Lebens im Mittelalter sind Palästina, die östliche Diaspora, die Iberische Halbinsel, das Frankenreich und Deutschland. Aus der Fülle der Lebensäußerungen des neuzeitlichen und gegenwärtigen Judentums sind beispielhaft die wechselhafte Geschichte des Judentums in Palästina und im modernen Staat Israel sowie das überaus lebendige deutsche Judentum ausgewählt.
Juden in aller Welt verbindet bei aller religiöser und kultureller Vielfalt die Hingabe an den einen gnädigen und gerechten Gott und die Auseinandersetzung mit seinen Geboten. Seit der Antike bemühte sich das Judentum fortwährend, sich seiner Existenz und dem verpflichtenden Charakter seiner Erwählung denkend zu vergewissern. Im zweiten Kapitel werden deshalb einige bedeutende Glaubensdokumente, Werke und Persönlichkeiten des Judentums aus drei Jahrtausenden vorgestellt, die als Ausdruck dieser fortwährenden Vergewisserung gelten und zugleich die faszinierende Vielfalt und Lebendigkeit der jüdischen Religion zeigen.
Die gelebte jüdische Frömmigkeit wird traditionell von den Geboten der Tora bestimmt. Sie stiftet Heil und Orientierung, ermöglicht ein Leben in Übereinstimmung mit dem Willen Gottes und gibt dem Alltag wie dem Festtag Struktur und Bedeutung. Die jüdischen Feste und Bräuche im Jahreszyklus stellen die Gottesbeziehung regelmäßig wiederkehrend dar und dienen der Stärkung und der Erneuerung der jüdischen Identität. Im dritten Kapitel werden deshalb zunächst Lebensformen und Symbole des Judentums im Lebenszyklus und im Jahreszyklus beschrieben. Schließlich widmet sich ein Abschnitt dem jüdischen Gottesdienst in Geschichte und Gegenwart und gibt Auskunft über wichtige Gebete, rituelle Handlungen, Speise- und Reinheitsgebote.
Es ist dem Verfasser dieses Buches vor allem daran gelegen, dass jüdische Geschichte, Literatur und Lebensformen als lebendige – und sich weiterhin entwickelnde – Ausdrucksformen des immensen schöpferischen Beitrags der jüdischen Religion zu den bleibenden Errungenschaften der Geistes- und Kulturgeschichte erkannt werden. Gerade in Deutschland gehört das Judentum zu den grundlegenden Faktoren bei der Entstehung der eigenen – von den Nationalsozialisten aufgegebenen – Zivilisation und Kultur. Ohne das Verständnis des Judentums bleibt das Verständnis nicht nur der gesamten deutschen Geschichte unvollkommen.
Die vorliegende 4. Auflage enthält weitere Korrekturen und Ergänzungen. Mein Dank gilt Prof. Dr. Wolfgang Kraus für seine wertvollen Hinweise und Herrn Fritz Krause für die aufmerksame Durchsicht der Druckvorlage.
Tübingen, im April 2012 Michael Tilly
1.
Aus der Geschichte
des Judentums
Antike
Babylonien
Grundlegende Kennzeichen der antiken jüdischen Religion sind ihr strenger Monotheismus, die Kultzentralisation, die zentrale Bedeutung der als unmittelbar von Gott geoffenbart geltenden Tora (vgl. Kap. 2, Die Tora) und durch die Tora begründete Identitätsmerkmale wie Sabbatheiligung, Reinheitsbestimmungen und Beschneidung.
Das Judentum war und ist eine Buchreligion. Die in der Zeit während und nach dem babylonischen Exil (587/586–538 v. Chr.) entstandene schriftliche Tora ist die historische Voraussetzung des Judentums. Erst im Land zwischen Euphrat und Tigris südlich des heutigen Bagdad entstand auf der Basis altisraelitischer religiöser Traditionen die jüdische Religion. Die verschleppten Judäer nahmen viele Elemente aus ihrem kulturellen und religiösen Umfeld auf, verknüpften sie mit ihren eigenen Traditionen und entwickelten sie in kreativer Weise weiter. Hieraus ergibt sich die Konsequenz, nicht die heilsgeschichtliche Geschichtsbetrachtung der Bibel innerhalb des Horizontes frommer jüdischer (und christlicher und islamischer) Tradition als Orientierungsrahmen dieser Darstellung wesentlicher Phasen der bewegten jüdischen Geschichte zu Grunde zu legen, sondern die philologisch und geschichtswissenschaftlich verantwortete Analyse und Interpretation der geschichtlichen Quellen.
Im Jahre 597 v. Chr. verlor Juda seine Unabhängigkeit, nachdem es seinen Vasalleneid gegen Nebukadnezzar II. (605–562 v. Chr.), den Begründer des neubabylonischen Reiches, gebrochen hatte. Der judäische König Jojachin wurde zusammen mit Priestern, Hofbeamten und Teilen der städtischen Oberschicht aus Jerusalem nach Babylonien deportiert. Im Juli 587/586 v. Chr. eroberten die Truppen Nebukadnezzars endgültig die Stadt Jerusalem, das einstige politische Zentrum des Reiches Juda, und zerstörten den salomonischen Tempel, den uneinnehmbar geglaubten Wohnsitz des Gottes Israels. Das Königreich Juda wurde zu einer tributpflichtigen babylonischen Provinz. Viele Bewohner Jerusalems