»Nicht?«
Wie ein Hohn klang in diesem Moment Jubel und ein großes Hallo durch die Praxis. Die Jubelrufe waren bis ins Sprechzimmer zu hören.
Daniel dachte kurz nach, wie er die Situation retten konnte. Im nächsten Augenblick gab er sich einen Ruck und stand auf.
»Kommen Sie! Wenn ich Sie schon enttäuschen muss, lade ich Sie wenigstens auf Kaffee und Torte ein.«
Zögernd kam Wild der Einladung nach.
»Gibt es was zu feiern?«
»Unsere allseits geschätzte Kollegin Wendy ist heute zum ersten Mal nach ihrer …« Daniel hielt inne und sah ihn an.
»Ja?«
Bevor Dr. Norden Gelegenheit zu einer Antwort hatte, klopfte es, und Wendy steckte den Kopf herein.
»Hallo, Chef, melde mich gehorsamst zum Dienst zurück«, erklärte sie mit einem Lachen in der Stimme. »Ich würde mich freuen, wenn Sie uns bei Kaffee und Torte Gese …« Mitten im Satz hielt sie inne und starrte den zweiten Mann im Zimmer an, den sie eben erst entdeckt hatte. »Joseph? Was machst du denn hier?«
*
Nicht nur Wendy, sondern auch Felicitas Norden erlebte an diesem Morgen eine Überraschung. Als sie in die Klinik kam, um ihren Dienst anzutreten, kam ihr ein junger Patient in Begleitung seines Vaters entgegen. Sie hatte Robin erst am Abend zuvor aufgenommen. In ein Streitgespräch vertieft, bemerkten die beiden sie nicht. Fee sah ihnen kurz nach und beschloss, auf direktem Weg zu ihrem Stellvertreter zu gehen, der die Nachtschicht gehabt hatte.
»Warum ist mir Robin Querndt gerade auf dem Flur entgegengekommen?«, fragte sie. Ihre Fäuste waren geballt. Solange ihr Verdacht nicht begründet war, wollte sie nicht ungerecht sein.
Mit lang ausgestreckten Beinen saß Volker Lammers am Schreibtisch. Zum Frühstück hatte er sich eine Butterbreze aus Tatjanas Kiosk besorgt.
»Ich wünsche Ihnen auch einen wunderschönen guten Morgen«, erinnerte er sie freundlich an ihre guten Manieren.
Fee stemmte die Hände in die Hüften.
»Das wird sich noch rausstellen. Also, was ist mit Querndt?«
Seufzend erhob sich Lammers und ging hinüber zum Sideboard, wo eine Kanne stand.
»Auch einen Kaffee?«, fragte er statt einer Antwort. Felicitas schüttelte den Kopf. Er schenkte sich in aller Seelenruhe ein, gab Milch und Zucker in die Tasse und rührte enervierend langsam um. Doch sie tat ihm nicht den Gefallen, ihre Ungeduld zu zeigen. Sie wartete, bis er sich mit der Tasse in der Hand zu ihr umdrehte.
»Also?«
»Ich hab den kleinen Baron von Münchhausen entlassen«, erwiderte er.
Damit hatte Fee gerechnet.
»Ohne ihn vorher gründlich durchgecheckt zu haben?«
Lammers grinste.
»Wer hat hier einen Stall voller Kinder? Sie oder ich?«, fragte er. »Nur zu Ihrer Info: Der Rotzlöffel schreibt heute eine Matheschulaufgabe. Ausgerechnet in diesem Fach ist er keine Leuchte. Deshalb macht er blau. Dass Sie das nicht durchschauen, wundert mich wirklich.«
Fee schnappte nach Luft.
»Eine Schulaufgabe ist für Sie Grund genug, ihn zu verdächtigen?«
Lammers kehrte an den Schreibtisch zurück. Er schob ein paar Unterlagen hin und her, bis er gefunden hatte, wonach er suchte.
»Zu Ihrer Info: Er war nicht zum ersten Mal bei uns.« Er hob die umfangreiche Krankenakte hoch. »Atemnot, Migräne, unerklärliche Bauchkrämpfe. Allesamt Beschwerden, die man nicht nachweisen kann.«
»Na und?« Fee dachte nicht daran, klein beizugeben. »Und was, wenn ihm diesmal wirklich was fehlt?«
Lammers maß sie mit undurchdringlichem Blick. Schließlich schüttelte er den Kopf.
»Kein Wunder, dass Ihre Söhne solche Weicheier sind«, seufzte er dann. »Können einem leid tun. So unvorbereitet in die harte Welt geworfen zu werden …« Ein Zungenschnalzen begleitete sein Kopfschütteln. »Nur Ihre Tochter … diese Anneka … die hat ehrlich Biss. Wie sie neulich ihre beiden Verehrer vorm Kiosk abgekanzelt hat … Alle Achtung, das hatte Stil! Kann sie aber unmöglich von der Mutter haben«, fügte er im nächsten Atemzug hinzu.
Felicitas wollte eben zu einem Konter ansetzen, als ihre Tochter den Kopf zur Tür hereinsteckte.
»Was ist mit mir?«, fragte Anneka und lächelte freundlich in die Runde. »Einen wunderschönen guten Morgen übrigens.«
»Sogar bessere Manieren als die Mutter hat sie«, grinste Lammers und grüßte zurück.
Doch Fee beachtete ihn nicht.
»Anneka, was machst du denn hier?«
»Ich muss was für den Kindergarten besorgen. Da dachte ich, ich komm mal vorbei. Hast du einen Moment Zeit? Ich muss mit dir reden.«
»Hui, das klingt aber ernst.«
»Na ja.« Mit einem verlegenen Blick auf Lammers wackelte Anneka mit dem Kopf.
Fee verstand sofort. Sie drehte sich zu ihrem Stellvertreter um.
»Wir sprechen uns noch«, verkündete sie und machte Anstalten, das Zimmer zu verlassen.
»Das ist leider so sicher wie das Amen in der Kirche«, schickte Lammers ihr nach. »Außer Sie entschließen sich, sich endlich anständig um Ihre Kinder zu kümmern. Die armen Kleinen …« Er seufzte. »Müssen schon in die Klinik laufen, um die Mama überhaupt zu Gesicht zu bekommen.«
Doch Fee beachtete ihn nicht. Sie verdrehte die Augen und fasste ihre Tochter sanft am Ellbogen, bevor sie das Zimmer verließ.
»Meine Güte«, stöhnte Anneka auf dem Flur. »Der ist ja noch schlimmer, als ich dachte.«
»Und das eben war noch harmlos«, ergänzte Fee und legte den Arm um die Schultern ihrer ältesten Tochter. »Aber jeder Gedanke an ihn ist einer zuviel. Sag mir lieber, was ich für dich tun kann. In letzter Zeit sehen wir uns ja kaum noch.« Obwohl Felicitas sich dagegen wehrte und Volker sich darüber hinaus ständig widersprach, hinterließ seine Gehirnwäsche langsam Spuren. War sie wirklich so eine Rabenmutter?
»Sag bloß, dieser Typ hat dir ein schlechtes Gewissen gemacht?« Anneka erriet ihre Gedanken. »Mensch, Mum, lass dir doch von dem nichts einreden. Du bist die beste Mami der Welt«, versicherte sie energisch und nicht ganz uneigennützig. »Und was solltest du denn die ganze Zeit zu Hause tun? Wir sind längst erwachsen und gehen unserer eigenen Wege. Sogar Lenni flieht vor der Einsamkeit und arbeitet freiwillig im Klinikkiosk«, ergriff sie Partei für ihre Mutter. »Der ist doch nur neidisch, weil du so eine tolle Familie hast und er ganz allein dasteht.«
Fees Herz ging auf vor Erleichterung und Liebe.
»Das hast du schön gesagt. Du glaubst gar nicht, wie froh mich solche Worte machen.« Sie waren am Büro angelangt, und sie ließ ihrer Tochter den Vortritt.
»Wenn du willst, sage ich dir das jeden Tag. Solange ich in Neuseeland bin, leider nur per Telefon. Aber das macht ja nichts.« Der letzte Satz war Anneka so herausgerutscht. Mit erschrockenem Gesicht ließ sie sich auf das Sofa in der Besucherecke plumpsen und wagte es nicht, hochzusehen.
Fee legte den Kopf schief.
»Wann bist du denn in Neuseeland? Machst du Urlaub?«, hakte sie nach. »Davon weiß ich ja noch gar nichts?«
»Deshalb bin ich gekommen«, sagte Anneka und spielte mit dem Ring an ihrem Finger. »Ich habe ein Angebot von einem Kindergarten in Auckland. Da kann ich mein Berufsvorbereitungsjahr absolvieren.«
Fee, die zwei Gläser Wasser geholt hatte, ließ sich auf einen der beiden Sessel gegenüber der Couch fallen.
»Du willst nach Neuseeland? Ein ganzes Jahr?« Sie starrte