Das Schlagen der Uhr unten in der Halle erinnerte mich an den Lauf der Zeit.
Ich legte alle Gegenstände, wie ich sie gefunden, in den Toilettenkasten zurück und begab mich wieder in das Schlafzimmer.
»Als ich meinen noch ruhig schlafenden Gatten anblickte, drängte sich mir die Frage auf: Was konnte diese gütige Mutter veranlaßt haben, uns auf eine so grausame Art trennen und unsere Verbindung hindern zu wollen? Sollte ich Eustace die Frage vorlegen, wenn er erwachte? Nein Es war zwischen uns ausgemacht worden, seiner Mutter nicht zu erwähnen, und außerdem hätte es ihn unangenehm berühren können, daß ich das geheime Fach seines Toilettenkästchens geöffnet.
Nach Beendigung des Frühstücks erhielten wir Nachricht von der Yacht. Das Fahrzeug war im Hafen angekommen, und der Steuermann erwartete die Befehle meines Gatten.
Eustace schien meine Begleitung nicht zu wünschen, weil die Vorbereitungen zur Reise kein Interesse für mich hätten. Er fragte mich, ob ich seine Rückkehr abwarten wollte. Der Tag war ausnehmend schön, und das Meer war in der Ebbe. Ich bat ihn Inn Erlaubniß, einen Spaziergang am Strande machen zu dürfen, und unsere Wirthin, die gerade im Zimmer war, erbot sich, mich zu begleiten wurde verabredet, daß wir in der Richtung nach Broadstairs gehen und daß wir uns ans dem Heimwege am Strande treffen wollten.
Nach einer kleinen halben Stunde war ich mit der Wirthin unterwegs.
Das landschaftliche Bild des schönen Herbstmorgens war bezaubernd. Die frische Brise, der klare Himmel, die wogende blaue See, die sonnbeglänzten Berge und der gelbe Sand zu ihren Füßen, das ruhige Dahingleiten bewimpelter Schiffe, das Alles war so entzückend, die Seele erfrischend, daß, wäre ich allein gewesen, ich hätte tanzen können wie ein kleines Kind. Der einzige Mißton, der meine Freude durchdrang, war die geschwätzige Zunge der Wirthin. Sie war ein offenes, gutmüthiges, leerköpfiges Weib, das in fortwährendem Sprechen blieb, ich mochte zuhören oder nicht, und das sich angewöhnt hatte, in jedem Satze mindestens einmal meinen Namen zu nennen.
Wir mochten eine halbe Stunde gegangen sein, als wir eine Dame einholten, welche vor uns am Meeresstrande hinging.
Gerade in dem Augenblick, wo wir ihr Vorbeigehen wollten, faßte sie nach ihrem Taschentuch und riß einen Brief mit heraus, der unbemerkt von ihr auf den Sand fiel. Ich hob ihn auf und bot ihn der Dame.
Als sie den Kopf wandte, um mir zu danken, stand ich wie angewurzelt. Das war das Original des photographischen Portraits aus meines Mannes Toilettenkästchen. Es war seine Mutter, die mir gegenüber stand. Ich erkannte die seltsamen kleinen grauen Locken, die gütig blickenden Augen, das Maal in ihrem Mundwinkel. Ein Irrthum war nicht möglich.
Die alte Dame hielt, wie es wohl natürlich war, meine Verwirrung für Befangenheit. Mit vollkommen feinem Takt begann sie eine Unterhaltung mit mir. In der nächsten Minute ging ich ruhig an der Seite der Frau, die mich als Mitglied ihrer Familie verworfen hatte, nicht wissend, ob ich es wagen dürfte, in Abwesenheit meines Gatten mich ihr vorzustellen.
Einen Augenblick darauf erledigte meine Wirthin die Frage, welche mich soeben beschäftigte. Ich äußerte die Ansicht, daß wir Broadstairs wohl schon nahe sein dürften.
»O nein, Mrs. Woodville!« rief die zungenfertige Wirthin, »wir sind noch ein ganzes Stück davon ab.«
Bei der Nennung des Namens blickte ich mit klopfendem Herzen auf die alte Dame. Zu meinem unaussprechlichen Erstaunen zeigte nicht die geringste Veränderung ihrer Züge, daß er sie überrascht. Die alte Mrs. Woodville sprach eben so ruhig und unbefangen mit der jungen Mrs. Woodville weiter, als wenn sie den Namen in ihrem ganzen Leben nicht gehört.
Mein Antlitz und Benehmen mußte etwas von der inneren Erregung verrathen haben, die mich beherrschte.
»Sie haben Sich zu sehr angestrengt,« sagte die Dame mit ihrem gütigen Ton. »Sie sehen bleich und ermüdet aus. Lassen Sie uns hier ein wenig niedersitzen.«
Ich folgte ihr zu einigen rohen Steinen, welche uns als Bank dienten.
Wenn es nach mir gegangen wäre, würde ich sofort eine Erklärung herbeigeführt haben. Der Gedanke an Eustace hielt mich aber von derselben zurück.
Während ich mich darüber beunruhigte, welche Gründe die alte Dame veranlassen möchten, mich nicht als ihre Schwiegertochter zu betrachten, begann sie wieder freundlich mit mir zu sprechen. Sie sagte, daß sie sich ebenfalls angegriffen fühle, daß sie eine schlechte Nacht am Bett einer nahen Verwandten zugebracht, die hier in Ramsgate wohne. Am gestrigen Tage hätte sie ein Telegramm zu der kranken Schwester gerufen. Gegen Morgen habe sich der Zustand aber gebessert, und der Arzt habe ihr die Versicherung begeben, daß das Schlimmste nicht mehr zu befürchten sei. Da hätte sie es für gut gehalten, einen kleinen Spaziergang am Wasser zu machen, um sich zu erfrischen. Ich hörte die Worte, ich verstand ihren Sinn, aber ich war noch zu verwirrt und eingeschüchtert, um die Unterhaltung fortsetzen zu können.
Die Wirthin brach zuerst wieder das Schweigen. »Dort kommt ein Gentleman,« sagte sie, nach der Richtung von Ramsgate deutend. »Die Damen werden nicht zu Fuß zurückkehren können. Wollen wir den Herrn nicht bitten, daß er von Broadstairs einen Wagen hierher schickt?«
Der Gentleman kam näher und näher.
Die Wirthin und ich erkannten ihn in demselben Moment.
Es war Eustace, der der Verabredung gemäß uns nachgegangen war.
»O, Mrs Woodville, sehen Sie doch, da kommt Mr. Woodville!« rief die Wirthin voller Freude.
Ich blickte noch einmal auf meine Schwiegermutter. Noch einmal machte der Name nicht den geringsten Eindruck auf sie. Ihr Auge war nicht so scharf als das unsere, sie hatte ihren Sohn noch nicht erkannt. Er aber hatte junge Augen wie wir und erkannte sofort seine Mutter. Für einen Moment stutzte er, als wenn der Blitz ihn getroffen. Dann schritt er langsam weiter, sein sonst rothes Antlitz bleich vor niedergekämpfter Erregung, die Augen fest auf seine Mutter gewandt »Du hier!« sagte er.
»Wie geht es Dir, Eustace?« entgegnete sie ruhig und sanft.
»Hast Du schon von Deiner Tante Krankheit gehört? Wußtest Du überhaupt, daß sie in Ramsgate sei?«
Er antwortete nicht.
Die Wirthin, aus den gehörten Worten ihre Schlüsse machend, blickte mit solchem Staunen von mir auf meine Schwiegermutter, daß selbst ihre Zunge gelähmt wurde. Ich wartete, die Augen auf meinen Gemahl gerichtet, was er beginnen würde. Wenn er jetzt gezögert hätte, mich anzuerkennen, würde vielleicht meine ganze Zukunft Meine andere Richtung bekommen haben – denn ich hätte ihn verachtet.
Er zögerte aber nicht. Er trat an meine Seite und nahm meine Hand- »Weißt Du, wer diese Dame ist?« fragte er seine Mutter.
Sie antwortete mit einem freundlichen Neigen des Kopfes gegen mich:
»Eine Dame, die ich am Strande traf, und die so gütig war, einen Brief aufzuheben, den ich hatte fallen lassen. Mich dünkt, ich hörte auch den Namen nennen; Mrs. Woodville, war es nicht so?«
Meines Gatten Finger umschlossen mit so krampfhaftem Druck meine Hand, daß es mich schmerzte. Er belehrte seine Mutter, zu seiner Ehre muß ich es ihm nachsagen, auch ohne einen Moment schurkischen Zögerns »Mutter,« sagte er vollkommen ruhig, »die Dame ist meine Frau.«
Die alte Lady, die bis jetzt ihren Platz behauptet hatte, erhob sich langsam und blickte ihren Sohn schweigend an. Der erste Ausdruck des Staunens wich aus ihren Zügen und verwandelte sich in einen schrecklichen Blick, welcher zugleich Zorn und so tiefe Verachtung ausdrückte, wie ich sie nie zuvor in eines Weibes Auge gesehen.
»Ich bemitleide Dein Weib!« sagte sie.
Mit diesen Worten winkte sie ihm mit der Hand, nicht näher zu treten, und ging dann allein weiter, wie sie allein gekommen.
Viertes Capitel.
Auf dem Heimwege
Als wir miteinander allein waren, herrschte einen Augenblick Schweigen zwischen uns. Eustace brach es zuerst.
»Bist