Marcelle war weit entfernt gewesen, ein so bedeutendes Unglück zu erwarten! Sie hatte es kaum zur Hälfte vorausgesehen. Die Gläubiger, Herrn Bricolin an der Spitze, hatten noch keine Reklamationen angestellt, weil sie, ihrer Kapitalien hinlänglich versichert, abwarteten, dass sich die Witwe über die Sachlage erst unterrichte, um dann von ihr entweder eine vollständige Heimzahlung oder aber die Fortsetzung der Einkünfte zu fordern, welche ihre Darlehen ihnen gewährten.
Als sie an Herrn Bricolin die Frage stellte, warum er sie denn, seit sie Witwe sei, nicht von der Lage der Dinge unterrichtet habe, antwortete er mit brutaler Offenheit, er hätte für seine Person keinen Grund zur Eile gehabt, seine Verschreibung wäre gut, und jeder Tag der Gleichgültigkeit von Seiten des Eigentümers wäre ein Tag des Gewinnes für den Pächter, indem sich die Interessen seines Geldes dadurch anhäuften, ohne dass er irgendetwas riskiere.
Diese entschiedene Auskunft musste Marcelle auf der Stelle über die Moral des Herrn Bricolin ins Klare setzen.
»Das ist richtig«, bemerkte ihm Marcelle mit einem ironischen Lächeln, dessen Beachtung er für überflüssig hielt, »es ist also nur meine Schuld, wenn ich Tag für Tag von den Einkünften, auf welche ich Anspruch machen zu können glaubte, verschlingen lasse. Allein im Interesse meines Sohnes muss ich dieser Art von Eisgang ein Ende machen, Herr Bricolin, und ich erwarte von Ihnen in dieser Hinsicht gute Ratschläge.«
Herr Bricolin, über die Ruhe, womit Frau von Blanchemont die Nachricht aufnahm, dass sie beinahe ruiniert sei, und mehr noch über das Zutrauen, womit sie seinen Rat verlangte, sehr erstaunt, warf einen forschenden Blick auf ihr Gesicht und glaubte darin den Ausdruck boshafter Herausforderung wahrzunehmen.
»Ich sehe wohl«, sagte er, »dass Sie mich in Versuchung führen wollen, allein ich mag mich keinen Vorwürfen von Seiten Ihrer Familie aussetzen. Es wäre schlimm für mich, wenn man mich der eigennützigen Gefälligkeit, noch weitere Vorschüsse zu leisten, zeihen würde. Ich muss ernsthaft mit Ihnen reden, Frau von Blanchemont, allein die Wände sind hier sehr dünn, und was ich Ihnen zu sagen habe, braucht eben nicht ausgeschrien zu werden. Wenn Sie daher mit mir zum Scheine das alte Schloss besichtigen wollten, so würde ich Ihnen sagen: 1) welchen Rat ich Ihnen gäbe, wenn ich Ihr Vater wäre, 2) was ich als Ihr Gläubiger von Ihnen getan wünsche. Sie werden sehen, dass es auch noch einen dritten Gesichtspunkt gibt, ich denke aber nicht daran.«
Wenn das alte Schloss nicht überall von Brennesseln, von stinkenden Pfützen und von tausenderlei Schutt, der nur den Eindruck barbarischer Unordnung machte, umgeben gewesen wäre, so hätte es in seinem Verfalle noch einen ziemlich malerischen Anblick dargeboten. Es war noch ein Rest des Schlossgrabens, mit hohem Schilf bedeckt, vorhanden, prächtiger Efeu umrankte die ganze Fassade und aus den Trümmern hatten sich wilde Kirschbäume zu einer außerordentlichen Höhe emporgerungen. Diese Seite des Gebäudes ermangelte also nicht eines gewissen dichterischen Anhauchs.
Herr Bricolin zeigte Marcelle das Gemach, welches ihr Mann, wenn er Blanchemont besucht hatte, zu bewohnen pflegte. Es war ein unscheinbarer und sehr unreinlicher Rest von Mobiliar aus der Zeit Ludwigs XVI. in demselben aufgestellt, doch war es bewohnbar, und Frau von Blanchemont beschloss, hier zu übernachten.
»Das wird einigermaßen dem Wunsche meiner Frau, welche Sie gerne beherbergen möchte, entgegen sein«, meinte Herr Bricolin, »allein ich kenne nichts Unverständigeres, als die Leute mit Höflichkeiten zu belästigen. Über Geschmackssachen lässt sich nicht streiten, und wenn das alte Schloss Ihnen gefällt, so werde ich Ihre Sachen herüberbringen lassen. Für Ihr Kammermädchen kann man ja ein Gurtbett in das Kabinett da stellen. Inzwischen wollen wir ernsthaft über Ihre Angelegenheiten reden, Frau von Blanchemont, das geht vor.«
Mit diesen Worten nahm Herr Bricolin einen Lehnstuhl, setzte sich und begann folgendermaßen:
»Vor allem gestatten Sie mir die Frage, ob Sie außer dem Gut Blanchemont noch anderes Vermögen besitzen? Ich glaube nicht, denn ich bin gut unterrichtet.«
»Ich besitze in der Tat außerdem nichts«, entgegnete Marcelle ruhig.
»Und glauben Sie, dass das väterliche Erbe Ihres Sohnes von Bedeutung sein wird?«
»Ich habe hievon noch keine Kenntnis. Aber wenn die Güter des Herrn von Blanchemont ebenso verschuldet sind, wie das meinige…«
»Ah, Sie wissen nichts davon? Sie beschäftigen sich also nicht mit Ihren Angelegenheiten? Das ist kurios! Aber die Adeligen sind alle so. Ich muss Ihre Lage kennen, denn so verlangt es mein Gewerbe und mein Interesse. Da ich sah, dass der verstorbene Herr Baron so großartig lebte, und ich nicht voraussah, dass er so jung sterben würde, musste ich die Breschen kennenlernen, welche er in sein Vermögen machte, um gegen den Verlust des meinigen, wenn eines Tages etwa die Anleihen den Wert des hiesigen Gutes überstiegen, auf der Hut sein zu können. Ich ließ also durch Leute, welche die Sache verstehen, alles auskundschaften und kann Ihnen jetzt bei Heller und Pfennig sagen, was Ihrem Kleinen von dem Vermögen seines Vaters übrig bleibt.«
»Haben Sie doch die Güte, mich es wissen zu lassen, Herr Bricolin.«
»Das ist eine leichte Sache und Sie können sich bald davon überzeugen. Höchstens kann ich darin um die Summe von zehntausend Francs fehlschießen. Ihr Gemahl besaß ungefähr eine Million, und diese wäre noch vorhanden, wenn nämlich seine Schulden, welche sich auf die Summe von neunmalhundertundachtzig oder neunzigtausend Francs belaufen, bezahlt wären.«
»Mein Sohn hat also nichts mehr?« fragte Marcelle, durch diese neue Entdeckung verwirrt.
»Wie Sie sagen. Mit dem, was Sie noch haben, wird es etwa die Summe von dreimalhunderttausend Francs ausmachen. Das ist noch hübsch genug, wenn Sie hier aufräumen und liquidieren wollen. In Gütern angelegt, wird es Ihnen eine Rente von sechs oder siebentausend Livres abwerfen. Wenn Sie es durchbringen wollen, wird sich eine Zeit lang noch hübscher davon leben lassen.«
»Ich kann nicht die Absicht haben, die Zukunft meines Sohnes zu vernichten, und meine Pflicht ist, mich so gut, als möglich, aus der Verlegenheit zu ziehen, in welcher ich mich befinde.«
»In diesem Falle hören Sie mich wohl. Ihre Güter und die seinigen ertragen zwei Prozente. Sie aber verzinsen Ihre Schulden mit fünfzehn, auch zwanzig Prozent, und dies zusammengehalten mit den angehäuften Interessen, werden Sie Ihr Schuldkapital bis ins Unendliche vermehren. Was wollen Sie tun?«
»Man muss zum Verkauf schreiten, nicht wahr?«
»Wie Sie wollen. Ich glaube, es wird dies vorteilhaft für Sie sein, im Falle Sie nicht vorziehen, da Sie noch für lange die Nutznießung von dem Vermögen Ihres Sohnes haben, die Unordnung zu Ihrem Vorteil zu benützen.«
»Nein, Herr Bricolin, das ist nicht meine Absicht.«
»Aber Sie können auf das hiesige Gut immer noch Gelder aufnehmen und da Ihr Kleiner Großeltern besitzt, welche er einst beerbt, so kann er bis zur Zeit seiner Mündigkeit nicht bankerott werden.«
»Das ist gut ausgesonnen«, versetzte Marcelle kalt, »aber ich will einen ganz andern Weg einschlagen. Ich will alles verkaufen, damit die Schulden am Ende nicht den Wert der Güter übersteigen, und was mein Vermögen betrifft, so will ich es liquidieren, um die Mittel zu haben, meinem Sohn eine anständige Erziehung angedeihen zu lassen.«
»Sie wollen also Blanchemont verkaufen?«
»Ja, Herr Bricolin, und zwar sogleich.«
»Sogleich? O, ich glaub’ es wohl; wenn man sich in Ihrer Lage befindet und ehrlich sich davon losmachen will, ist kein Tag zu verlieren, denn jeder Tag macht das