Den Lauf der Vauvre aufwärts verfolgend, befand man sich, nach Übersteigung eines ziemlich abschüssigen Hügels, auf der Anhöhe von Blanchemont. Dies ist ein schöner, von alten Bäumen beschatteter Grasplatz, der eine reizende Landschaft beherrscht, die, nicht sehr hoch über dem schwarzen Tal gelegen, einen frischen, melancholischen, fast wilden Anblick darbietet, weil man von den zerstreuten Wohnungen, welche umherliegen, nur da und dort ein Strohdach oder ein gebräuntes Ziegeldach aus den Baumgruppen hervorragen sieht. Eine arm aussehende Kirche und die kleinen Häuser des Weilers bedecken diese Anhöhe, die sich gegen den Fluss hinabzieht, der hier in anmutigen Windungen sich dahinschlängelt. Von hier führt ein holperichter Weg auf das Schloss zu, welches etwas weiter hinten am Fuß der Anhöhe mitten in Fruchtfeldern liegt. In die Ebene hinablenkend, verliert man die herüberblauenden Landschaften des Berry und der Marche aus dem Gesicht und man muss, um sie wieder zu erblicken, das zweite Stockwerk des Schlosses besteigen.
Dieses Schloss war nie sehr fest gewesen, die Mauern, aus denen schlanke Türme hervorragten, haben nur fünf bis sechs Fuß im Durchmesser. Es wurde erbaut, als die Feudalkriege schon zu Ende gingen. Indessen wiesen die engen Pforten, die spärlich angebrachten Fenster, die zahlreichen Trümmer von Mauern und Türmen, welche die Außenwerke gebildet hatten, dennoch auf eine Zeit voll Misstrauen und Gefahr hin, in welcher man sich gegen einen Handstreich sicherzustellen gesucht hatte.
Das eigentliche Schloss ist ziemlich hübsch. Es bildet ein längliches Viereck und hat in jedem Stockwerk ein einziges großes Gemach. An jeder der vier Ecken befindet sich ein Turm, welcher kleinere Gemächer enthält, und ein fünfter Turm, der an der Hinterseite angebracht ist, dient zum Treppenhaus. Die Zerstörung der ehemaligen Verbindungswege hat die Kapelle isoliert hingestellt, die Gräben sind zum Teil geebnet, die Türme der Ringmauer zur Hälfte abgetragen und der Teich, welcher das Schloss sonst an der Nordseite bespülte, hat sich in eine schöne Wiese verwandelt, in deren Mitte eine Quelle hervorquillt.
Allein die Aufmerksamkeit der Erbin von Blanchemont wurde bald von dem malerischen Anblick des alten Schlosses abgelenkt. Der Müller führte sie nämlich, nachdem er ihr aus dem Fuhrwerk geholfen, auf ein Gebäude zu, welches er das neue Schloss nannte, und zu den weitläufigen Gebäulichkeiten der Meierei, welche am Fuß des alten Herrenhauses liegen und sich längs eines sehr großen Hofraums hinziehen, der auf der einen Seite von einer gezackten Mauer, auf der andern von einer Hecke und einem, mit schlammigem Wasser angefüllten Graben begrenzt wurde.
Man kann sich nichts Traurigeres und weniger Anheimelndes denken, als diese reiche Pächterwohnung. Das sogenannte neue Schloss ist weiter nichts als ein großes Bauernhaus, welches vor etwa fünfzig Jahren aus den Trümmern der Festungswerke erbaut wurde. Die frisch geweißten Wände desselben und das Dach von neuen, schreiendroten Ziegeln bezeugten eine unlängst vorgenommene Reparation, und dieser äußerliche Aufputz stach grell von der verwitterten Altertümlichkeit der übrigen Baulichkeiten und dem unreinlichen Hof ab. Diese finstern Bauten, welche Spuren alter Architektur an sich trugen und gut unterhalten waren, bildeten eine Reihe von Scheunen und Ställen, das einzige, was den Stolz der Pächter und die Bewunderung sämtlicher Bauern ausmacht. Aber diese Umgebung, den Ackerbaugeschäften so förderlich, für Viehzucht und Ernte so bequem, beschränkte Blicke und Gedanken auf einen traurigen, prosaischen und durch seinen Schmutz widerlichen Raum. Ungeheure Misthaufen, welche, tief in ihre steinernen Gruben versenkt, dennoch zehn bis zwölf Fuß hoch hervorragten, entsandten schmutzige Bäche, welche man ganz offen über den Hof leitete, damit sie die Gemüsebeete des tieferliegenden Küchengartens tränkten. Diese Düngervorräte, ein mit Vorliebe gepflegter Reichtum des Landmanns, ergötzen seinen Blick und machen sein Herz selbstgefällig schlagen, wenn einer seiner Nachbarn sie mit Blicken des Neides und der Bewunderung mustert. Bei kleineren ländlichen Heimwesen beleidigen diese Einzelheiten weder das Auge, noch den künstlerischen Sinn. Ihre Unordnung, die überall zerstreuten Ackergeräte, das allenthalben wuchernde Grün verbergen oder verschönern dieselben, aber nach einem größern Maßstabe und auf einem weiten Raum ist nichts abschreckender, als der Anblick dieser unreinen Gegenstände. Scharen von Truthühnern, Gänsen und Enten scheinen es darauf anzulegen zu verhindern, dass man den Fuß irgendwie auf eine von dem Abfluss der Mistlache verschonte Stelle setzen könnte und der gepflasterte Weg, welcher den Hof durchschnitt, war ebenso unpraktikabel, wie der übrige Raum. Die Überbleibsel des alten Daches von dem neuen Schlosse lagen zerstreut umher, und so wandelte man auf einem Boden von zerbrochenen Ziegeln.
Es war zwar bereits sechs Monate her, seit das Dach neu gedeckt worden war, allein solche Reparationen waren die Sache des Eigentümers, so dass sich der Pächter mit dem Aufräumen des Abfalls und dem Ausputzen des Hofes nicht eben sehr beeilte, sondern sich vornahm, dieses nach Beendigung der sommerlichen Feldarbeiten gelegentlich besorgen zu lassen. Einesteils ersparte man sich also dadurch ein paar Tagewerke, andernteils war auch die tiefe Apathie unserer Bauern daran schuld, welche jederzeit gern etwas ungetan lassen, wie wenn ihre Tätigkeit nach einer Anstrengung schlechterdings der Ruhe bedürfte und sie die Süßigkeit des Nichtstuns schon vor Beendigung der Arbeit kosten wollten.
Marcelle verglich diesen unpoetischen und widerlichen bäurischen Überfluss mit dem anmutigen Heimwesen des Müllers und hätte ihm hierüber gern einige Bemerkungen gemacht, wenn sie inmitten des Geschreis der aufgescheuchten und doch vor Schrecken unbeweglichen Truthähne, des pfeifenden Geschnatters der Gänsemütter und des Gebells von vier oder fünf dürren, gelbfarbigen Hunden hätte zu Worte kommen können.
Da es Sonntag war, befanden sich die Ochsen im Stalle und die Knechte lungerten in ihrem Sonntagsstaat von grobem blauem Tuch an dem Hoftor umher. Sie sahen mit großer Verwunderung die Patache auf den Hof fahren, aber keiner rührte sich von der Stelle, um die Ankömmlinge zu empfangen, oder dem Pächter den ankommenden Besuch zu melden. So musste denn Louis der Frau von Blanchemont zum Führer dienen. Er machte auch wenig Umstände, trat ohne anzuklopfen ein und sagte:
»Frau Bricolin, kommen Sie doch! Da ist die Frau von Blanchemont, welche Sie besucht.«
Diese unerwartete Neuigkeit erschreckte die drei weiblichen Glieder der Familie Bricolin, welche soeben aus der Messe zurückgekehrt und im besten Zuge waren, stehend ein kleines Voressen zu sich zu nehmen, dass sie wie erstarrt einander ansahen, um sich zu fragen, was unter solchen Umständen zu sagen und zu tun sei, und sich noch nicht geregt hatten, als Marcelle eintrat.
Die weibliche Gruppe, welche sich ihr darstellte, war aus drei Generationen zusammengesetzt. Da war erstlich die Mutter Bricolin, welche weder lesen noch schreiben konnte und bäurische Tracht trug; da war zweitens Frau Bricolin, die Gattin des Pächters, ein wenig modischer angetan als ihre Schwiegermutter, mit der Haltung einer Pfarrershaushälterin. Sie verstand ihren Namen leserlich zu schreiben und die Stunden des Sonnenaufganges, sowie die Mondsveränderungen in dem Kalender von Lüttich nachzulesen. Endlich war da Jungfer Rose Bricolin, wirklich schön und frisch, wie eine Mairose. Sie konnte Romane lesen, das Haushaltungsbuch führen und Contretänze tanzen. Ihre Haare waren zierlich geordnet und sie trug ein hübsches Kleid von rosenrotem Musselin, welches die reizenden Formen ihres Wuchses hervorhob. Die wirklich hinreißend schöne Gestalt des Mädchens, dessen Gesichtsausdruck zugleich schlau und naiv war, verwischte bei Frau von Blanchemont den widerwärtigen Eindruck, welchen die sauren und harten Züge der Pächterin auf sie machten. Die Großmutter, welche gebräunt und gerunzelt war, wie eine echte Bäurin, hatte eine offene und kühne Physionomie.
Die drei Frauen standen mit aufgesperrtem Munde da. Die Mutter Bricolin legte sich die Frage vor, ob diese junge schöne Dame wohl die nämliche sei, welche sie vor ungefähr dreißig Jahren etlichemal auf dem Schlosse gesehen, obgleich sie wusste, dass die Mutter Marcelles schon lange tot sei; Frau Bricolin, die Pächterin, nahm zu ihrem Leidwesen wahr, dass sie bei ihrer Rückkunft aus der Messe eiligst eine Küchenschürze über ihr Merinokleid gebunden; Jungfer Rose aber überzeugte sich rasch, dass sie untadelhaft gekleidet