»Schau’ einmal, Heinrich ist hier!«
6. Kapitel.
Ein Name auf einem Baumstamm
Frau von Blanchemont erbebte und aus der Tiefe ihres Herzens drängte sich ein Schrei über ihre Lippen, indem sie mit den Augen umherspähte, was den Ausruf des Kleinen verursacht haben könnte. Den Blicken und Gebärden Eduards folgend, gewahrte Marcelle einen Namen, welcher mit einem Federmesser in die Rinde eines Baumes geschnitten war. Das Kind fing an, lesen zu lernen, vornehmlich solche Worte, welche ihm vertraut waren, gewisse Namen, welche man ihn vielleicht öfters als andere hatte buchstabieren lassen. Er hatte sogleich den Namen Heinrich auf dem glatten Stamme der Weißpappel erkannt und bildete sich ein, sein Freund müsse ihn eingeschnitten haben, und von der Einbildung ihres Sohnes hingerissen, überredete sich Marcelle einige Augenblicke lang gleich ihm, sie werde Heinrich Lemor aus den Schatten der Birken und Espen hervortreten sehen. Sie bedurfte freilich keines langen Nachdenkens, um über die Leichtigkeit, sich selbst zu täuschen, traurig zu lächeln. Indessen konnte sie sich, weil man nun einmal einer Hoffnung, und wäre sie noch so töricht, nicht gerne freiwillig entsagt, nicht enthalten, die Müllerin zu fragen, welche Person ihrer Familie oder Verwandtschaft den Namen Heinrich führe.
»Keine, soviel ich weiß«, entgegnete Mutter Marie. »Es gibt zwar in dem Marktflecken Nohant eine Familie Heinrich, aber das sind Leute, wie ich, welche weder auf Papier noch auf Baumrinde zu schreiben verstehen; einer ihrer Söhne vielleicht, der von der Armee zurückgekehrt ist… aber nein, der ist schon länger als zwei Jahre nicht mehr hier gewesen.«
»Sie wissen also nicht, wer diesen Namen geschrieben haben könnte?«
»Ich wusste nicht einmal, dass sich da etwas Geschriebenes fände. Ich habe es nie beachtet und hätte ich es auch gesehen, so würde ich es nicht haben lesen können. Ich hatte zwar die Mittel, eine bessere Erziehung zu genießen, aber zu meiner Zeit war das nicht der Brauch. Man machte ein Kreuz statt der Unterschrift und das war vor dem Gesetz genug.«
Der Müller kam jetzt zurück, um seinem Gast zu sagen, dass das Frühstück bereit stünde, und als er, der lesen und schreiben konnte, bemerkte, mit welcher Aufmerksamkeit Marcelle den Namen betrachtete, den er bis jetzt ebenfalls nicht wahrgenommen, suchte er ihr die Sache zu erklären.
»Ich erinnere mich nur eines Mannes, der dieser Tage hier war und sich an solchen Dingen ergötzt haben könnte«, sagte er, »denn es kommen nicht viele Stadtleute hieher.«
»Und wer ist dieser Mann«, fragte Marcelle, sich bemühend, gleichgültig auszusehen.
»Es war ein Herr, welcher uns seinen Namen nicht gesagt hat«, entgegnete die Alte. »Wir wissen zwar nicht viel von seiner Lebensart, doch so viel wissen wir, dass sich Neugierde nicht schickt. Louis gleicht in dieser Beziehung mir und nicht unsern Landsleuten, welche alle Fremden die Kreuz und Quer ausfragen; wir verlangen das nicht zu wissen, was man uns nicht wissen lassen will. Der erwähnte Herr sah aber aus, als wollte er seine Namen und seine Absichten für sich behalten.«
»Und doch legte der junge Mann uns seinerseits viele Fragen vor«, bemerkte Louis, »so dass wir wohl das Recht gehabt hätten, auch unsererseits zu fragen. Ich weiß nicht, warum ich es nicht gewagt. Er hatte doch kein schlimmes Aussehen und ich bin von Natur eben nicht blöde. Er hatte eine sonderbare Miene, welche mich beunruhigte.«
»Was für eine Miene denn?« fragte Marcelle, deren Neugierde und Interesse sich mit jedem Wort des Müllers steigerte.
»Ich weiß es Ihnen nicht zu sagen«, versetzte er, »ich gab nicht sehr Acht darauf, während er da war, und begann erst nach seinem Weggehen darüber nachzudenken. Ihr erinnert Euch, Mutter?«
»Ja, du sagtest zu mir: Seht, Mutter, das ist ein Mann, wie ich; er hat nicht, was er wünscht.«
»Bah, bah, das sagte ich nicht«, entgegnete Louis, welcher besorgte, seine Mutter möchte sich sein Geheimnis entschlüpfen lassen, und nicht ahnte, dass dieses bereits geschehen sei; »ich sagte einfach: das ist ein Mann, der nicht sehr mit der Welt zufrieden zu sein scheint.«
»Er war also sehr traurig?« fragte Marcelle bewegt.
»Er sah sehr nachdenklich aus. Er blieb wenigstens drei Stunden allein, da, wo Sie jetzt stehen, auf dem Boden sitzend, und starrte in den Fluss, als ob er die Wassertropfen zählen wollte. Ich glaubte, er sei krank, und ging zweimal zu ihm, um ihn einzuladen, ins Haus zu treten und sich zu erfrischen; als ich mich aber ihm näherte, fuhr er auf, als erwachte er aus einem Traume, und sah verdrießlich drein. Sogleich aber nahm er eine sanfte und wohlwollende Miene an und dankte mir. Dann nahm er ein Stück Brot und ein Glas Wasser an, weiter nichts.«
»Das ist Heinrich!« rief der kleine Eduard aus, welcher sich an dem Rock seiner Mutter festhielt, »du weißt wohl, Mama, dass Heinrich niemals Wein trinkt.«
Frau von Blanchemont errötete, erblasste, errötete abermals und fragte mit einer Stimme, welcher sie umsonst Festigkeit zu geben suchte, weswegen wohl dieser Fremdling in die Gegend gekommen.
»Darüber kann ich Ihnen keine Auskunft geben«, erwiderte der Müller, indem er seinen durchdringenden Blick auf das bewegte Gesicht der jungen Dame richtete und bei sich sagte: ›Das ist schon wieder jemand, der sich, wie ich, etwas in den Kopf gesetzt hat‹, und um so viel wie möglich, der Neugierde Marcelles bezugs des Fremden, sowie seiner eigenen bezugs der Empfindungen seines Gastes genugzutun, verbreitete er sich weitläufig über alle Einzelheiten, welche sie mit Spannung anhörte. Der Fremde war ungefähr vor vierzehn Tagen zu Fuß angekommen, nachdem er zwei Tage in dem schwarzen Tal umhergeirrt, und dann hatte man ihn nicht wieder gesehen. Man wusste nicht, wo er die Nacht zugebracht, und der Müller meinte, wahrscheinlich unter freiem Himmel. Er schien nicht sehr mit Geld versehen zu sein. Dessen ungeachtet aber hatte er sein frugales Mahl in der Mühle bezahlen wollen, als jedoch der Müller das Geld ausgeschlagen, hatte er ihm mit der Einfachheit eines Menschen gedankt, welcher nicht errötet, von einem seinesgleichen Gastfreundschaft anzunehmen. Er war angetan wie ein sauberer Arbeiter oder wie ein Bürger auf dem Lande, indem er eine Bluse und einen Strohhut trug. Auf dem Rücken hatte er ein kleines Ränzchen, das er von Zeit zu Zeit auf seine Knie legte, um Papier daraus hervorzuziehen und Notizen niederzuschreiben. Er war, wie er sagte, zu Blanchemont gewesen, obwohl ihn dort niemand gesehen hatte, und sprach über das Pachtgut und das alte Schloss in der Tat wie ein genau unterrichteter Mann. Während er sein Brot aß und Wasser trank, hatte er viele Fragen an den Müller gerichtet über die Ausdehnung der Güter, über ihren Ertrag, über die Schulden, welche darauf hafteten, über den Ruf und den Charakter des Pächters, über die Ausgaben des verstorbenen Herrn von Blanchemont, über dessen übrige Besitzungen, kurz, man hätte ihn hin in der Mühle zuletzt für einen Geschäftsmann halten müssen, der von einem Kaufliebhaber hergesandt worden, um über den Zustand des Gutes Erkundigungen einzuziehen.
»Denn es scheint, Blanchemont werde zum Verkauf ausgeboten werden oder sei schon ausgeboten«, setzte der Müller hinzu, welcher von der außerordentlichen Neugierde der Bauern jener Gegenden keineswegs so frei war, wie seine Mutter behauptet hatte.
Marcelle, welche von ganz anderen Gedanken bestürmt war, hatte die Bemerkung, womit der Müller seine Erzählung schloss, kaum gehört.
»Wie alt mochte der Fremde sein?« fragte sie.
»Nach seinem Aussehen zu schließen«, meinte die Müllerin, »mochte er so alt sein, wie Louis, vier- bis fünfundzwanzig Jahre ungefähr.«
»Und … wie sah er aus? War er braun, von kleinem Wuchse?«
»Er war weder sehr groß noch blond«, erwiderte der Müller: »er hatte kein übles Gesicht, aber er war blass, wie ein Mensch, der sich nicht der besten Gesundheit zu erfreuen hat.«
›Es könnte Heinrich sein‹, dachte Marcelle, obgleich das rücksichtlos entworfene Portrait dem Ideal, welches sie in ihrer Brust trug, nicht sehr entsprach.
»Es scheint ein in Geschäften sehr wohl bewanderter Mann zu sein«, fuhr der Müller fort, »denn als ich zugunsten des Herrn Bricolin, des Pächters von Blanchemont, welcher das Gut gern käuflich an sich bringen möchte, dem Fremden dasselbe vorleiden wollte, fand ich, dass dieser sich nicht so