»Darf ich bitten?« sagte der junge Gutsherr und wies auf den hohen Lehnstuhl, der am Schreibtisch stand.
»Sie kommen wohl wegen der Hypotheken,« fragte Herr von Berg, der die Episode mit seinem Gutsinspektor längst vergessen hatte, nur um etwas zu fragen.
»Nein,« sagte Madeline von Mertinat, »ich komme wegen … wegen Georginne, wegen des Geschehnisses mit meiner Schwester Georginne,« wiederholte sie und sah ihn, ihre Lippen aufeinander beißend, fest dabei an.
»Oh, und was hat Ihr Fräulein Schwester getan?« fragte er.
»Das wissen Sie doch ganz genau. Sie hat in Ihrer Forst, auf Ihren Feldern gewildert. Jahrelang hat sie das getan, ohne dass wir es wussten. Von ihrem zwölften Lebensjahr an, und die ganze Zeit über, haben wir Ihren Wildbraten gegessen, während wir geglaubt hatten und glauben mussten, dass es unser Wild sei! Ich gebe Ihnen mein Wort darauf, dass wir keine Ahnung davon hatten. Wir waren der festen Überzeugung, dass wir alles5 dem Jagdglück und der Geschicklichkeit unserer Schwester verdankten, und freuten uns des Wildreichtums, der unser einziger Reichtum geblieben zu sein schien. Sie werden mir vielleicht nicht glauben. Sie werden es für unmöglich halten, dass wir so blind und vertrauensselig gewesen sein sollten. Und doch ist es so! Ich kann Ihnen mein Ehrenwort darauf geben.«
»Aber ich bitte Sie, gnädiges Fräulein, das ist doch gar nicht so schrecklich zu nehmen. Ich hatte die ganze Geschichte überhaupt schon vergessen, eine so geringe Wichtigkeit habe ich Ihr beigelegt. Ich hatte es nur für meine Pflicht gehalten, es Sie wissen zu lassen, nicht, weil ich die paar Hühner und Hasen, auf die es herauskommt, als eine Schädigung meines Wildstandes betrachtet hätte, sondern weil ich mir dachte, dass es nicht, sagen wir pädagogisch richtig sein würde, ein Kind, und das ist ja, wie ich höre, Ihr Schwesterlein noch, nicht davor zu behüten, dass eine Unüberlegtheit, vielleicht doch bei ihr zur Passion und dann allerdings gefährlicher werden könnte.«
»Sie haben es eine Unüberlegtheit genannt, Herr von Berg. Das ist, meiner Ansicht nach, nicht der richtige Ausdruck dafür. Ich habe einen weit schärferen …«
»Dann jedenfalls einen ganz ungerecht harten, wenn Sie alle mitbestimmenden Gründe ins Auge fassen,« erwiderte er.
Da aber sprang sie auf.
»Wie meinen Sie das?!« rief sie aus, und ihre Augen schienen Blitze zu sprühen, während ihre feinen, schmalen Hände sich in den sich wundervoll anschmiegenden Handschuhen zusammenkrampften.
»Wollen Sie uns vielleicht unsere Armseligkeit vorwerfen? Glauben Sie vielleicht …?«
»Ich glaube gar nichts,« unterbrach er sie, »und habe nie an das gedacht, was Sie mir jetzt in Ihrer Erregtheit unterschieben wollen. Ich habe lediglich an die übergroße Freiheit gedacht, in der Ihr kleines Schwesterchen aufgewachsen zu sein scheint, und ich möchte nur wissen, was Sie mit dem Kinde vorhaben, das nun ich plötzlich auf dem Gewissen haben soll, während eigentlich doch auch Sie, gnädigstes Fräulein, einen Teil der Schuld mittragen.«
»Ich?« rief sie und sprang wieder auf.
»Ja. Denn an allem ist meiner Ansicht nach nur Ihr – verzeihen Sie mir, dass ich so aufrichtig spreche, aber Ihr übergroßer Stolz schuld. Man schlägt die Hand nicht aus, die sich einem in Freundschaft anbietet, um einem zu helfen. Ich bewundere zwar Ihren Stolz und die Fähigkeit Ihres Ausharrens und Ihres geradezu heldenhaften Ankämpfens gegen die Verhältnisse, die das Schicksal nun einmal mit sich gebracht hat, aber die Bewunderung, gnädigstes Fräulein, schließt nicht immer das Zugeständnis ein, dass man mit dem, was man bewundert, auch einverstanden sein muss. Sie haben aber eine Art Märtyrertum darin gesehen, das Kreuz des Lebens auf sich zu nehmen, und das selbst dort, wo es nicht unumgänglich notwendig war. Nein, bitte, lassen Sie mich ausreden. Ihre Schwester – Georgine nannten Sie, glaube ich, ihren Namen – war jedenfalls noch viel zu sehr Kind, um das Verständnis für Ihre Lebensauffassung zu haben, und da sie sich das, was sie haben wollte und was sie, vielleicht nicht ganz mit Unrecht, als eine Lebensnotwendigkeit empfand, nicht anders beschaffen konnte …«
»So stahl sie es,« setzte Madeline von Mertinat den Satz des jungen Gutsherrn fort, gleichsam als wollte sie ihm auf diese Art das Wort abschneiden.
Er jedoch ließ sich nicht beirren.
»Nein,« sagte er, »ich nenne das anders. Sie nahm es sich eben dort, wo sie es im Überfluss fand und legte sich gar nicht Rechenschaft über das Unrecht ab, das sie damit beging. Sie war sich ja auch gar nicht eines solchen bewusst. Rechnen Sie dazu noch die ihr offenbar angeborene Lust am edlen Weidwerk, und Sie werden ohne weiteres sehen, dass das sich selbst überlassene Kind der Lockung und Versuchung unterliegen musste. Überdies wurden ihr ihre kleinen Ausflüge in das Gebiet der Wilddieberei zur Zeit, da meine Tante noch lebte, immer recht gnädig nachgesehen, und sie nahm wohl, vielleicht nicht einmal so ganz mit Unrecht an, dass auch ich nicht zu den Unmenschen gehören werde, die ihr kleines Unrecht gleich zum Verbrechen stempeln werden. Schließlich und endlich aber dürfte die Romantik des Wilderns das sicherlich reizende Köpfchen der jungen Wildfrevlerin entflammt haben, und dieses bisschen Romantik dürfen Sie ihr am allerwenigsten übel nehmen, weil Sie, gnädigstes Fräulein, sich auch eine Romantik zurecht gelegt haben, die krankhafter und gefährlicher ist, als die Ihrer Schwester. Ich meine die Romantik des Elends.«
»Wie Sie über mich denken, das kann mich ja kalt lassen, nicht wahr, Herr von Berg«, sagte Madeline. »Bei der Beurteilung des Fehltrittes meiner Schwester Georginne vergessen Sie aber eines: sie hat nicht nur für uns gewildert, sondern sie hat auch das Ihnen gestohlene Wild an den Goldaper Wildbrethändler Söhnke verkauft.«
Das Gesicht des Gutsherrn wurde sichtlich viel ernster.
»Ja,« sagte er, »Sie haben recht, das gibt der Sache einen unangenehmen Beigeschmack. Aber auch da können wir mildernde Umstände annehmen. Trotzdem aber muss ich Ihnen gestehen, dass es gerade dieser Umstand war, der mich veranlasste, Sie von der ganzen Sache überhaupt in Kenntnis zu setzen. Wenn ich mir aber auch hier sage, dass wir es nur mit der Unüberlegtheit eines Kindes zu tun haben …«
»Dann sprechen Sie,« unterbrach sie ihn, »das furchtbarste Urteil für seine Zukunft aus, das man überhaupt zu fällen vermag, denn wenn sie nicht einmal die Armut von jetzt zu ertragen vermag, was wird dann erst in ein paar Wochen aus ihr werden?«
»Wieso? Wie meinen Sie das?« fragte Berg, von der Tragik in des Mädchens Worten, noch mehr aber von der Verzweiflung in ihrer Stimme und ihrer Haltung erschüttert.
»Wenn wir heimatlos, obdachlos hinausgestoßen sein werden in die Fremde! Hilflos, geldlos, freudlos in ein Leben gestürzt, das wir nicht kennen. Was wird aus Georginne dann, wenn jetzt schon ein Dieb aus ihr wurde?! Glauben Sie denn, die Welt draußen hat weniger Versuchungen für ein Kind, als unser stilles, einsames Heim hier? Ja, für ein Kind! Aber für ein Kind von siebzehn Jahren. Für ein Mädchen, das draußen sicher für schön gelten wird! Nein, nein, Sie wissen das anders, und ich weiß es auch!«
Sie war wieder in ihren Stuhl zurückgesunken und barg ihr Gesicht krampfhaft in beide Hände. Es war, als wolle sie durch den physischen Druck, die Tränen zurückhalten, die der seelische Schmerz ihr schluchzend erpressen wollte.
Berg wusste in seiner Herzensangst nicht, was tun. Er konnte, wollte und durfte dieses wundervolle Geschöpf, das geschaffen schien, um glücklich zu sein und glücklich zu machen, nicht weinen sehen. Am liebsten … so, was er am liebsten getan hätte, das wusste er wohl.
Er hätte diese Hände genommen und mit sanfter Ljebesgewalt von den in Tränen schwimmenden Augen gelöst. Er hätte dieses wundervolle, blasse, zitternde Köpfchen an sein Herz, an seine Brust gelegt und gesagt: »hier, hier ist ein Platz, hier schlägt ein Herz für dich!« Aber durfte er das? Bei jeder anderen vielleicht ja, bei ihr aber nicht. Und so sagte er nur im ruhigsten, geschäftsmäßigsten Tone, der ihm möglich war:
»Sie müssen sie eben irgendwohin in die Schule geben. In ein ganz ausgezeichnetes Pensionat, in dem sie durch ihre Lehrerinnen sowohl, als ihre Freundinnen, andere Anschauungen vom Leben