Indem der junge Mann dies sagte, bedeckte er sein Gesicht mit beiden Händen, denn er lachte nicht mehr und konnte seine Thränen nicht zurückhalten.
»Aber das ist noch sonderbarer,« sagte der Procurator, indem er sich vorbeugte und einen Arm des Angeklagten mit ganz besonderer Aufmerksamkeit betrachtete, »kommen Sie doch näher.«
Jean näherte sich ihm, ohne zu begreifen, was er von ihm wollte.
»Geben Sie mir Ihren rechten Arm.«
Jean that es.
»Es ist Blut aus Ihrem rechten Aermel,« sagte der Beamte.
»Blut?«
»Hier sehen Sie.«
In der That sah man große Blutstropfen auf dem Aermel von Jean’s Oberrocke, die, obgleich jetzt getrocknet doch offenbar neu waren.
»Können Sie dagegen etwas einwenden?« fuhr der Procurator fort, durch diesen letzten Beweis vollkommen ueberzeugt, daß er den wirklichen Mörder des Pfarrers vor sich habe, der sich durch den zuverlässigen Ton der vollkommensten Unschuld, mit dem er leugnete, als ein um so größerer Bösewicht zeigte.
»Blut?« wiederholte Jean; »wissen Sie auch gewiß, daß es Blut ist, was Sie hier sehen? Ich sehe nichts mehr, Herr Procurator; die Sinne vergehen mir, es ist mir, als wollte es mir den Kopf zersprengen!. . . Blut!. . . mein Gott! wie ist das Blut hierher gekommen?. . . das ist ja entsetzlich!«
»Es ist gut,« erwiderte der Procurator, indem er sich wieder niedersetzte und in einem Tone, der nicht die geringste Theilnahme mehr verrieth; »ich will mein Protocoll machen, dann werden wir zur Confrontation schreiten.
»Zur Confrontation?« wiederholte Jean mechanisch.
»Ja, Sie müssen mit den beiden Leichnamen confrontirt werden.«
»Mein Oheim und Toinette sind also wirklich todt?«
»Nun, das wissen Sie doch?«
»Ich träume also nicht? fuhr der junge Mann fort, indem er um sich blickte; »ich bin wirklich angeklagt, zwei Menschen ermordet zu haben, ich, ich, Jean Raynal, der eben noch im Begriffe war, fröhlich und heiter abzureisen, der vor zwei Stunden noch ruhig schlief! und ich habe Blut an meinem Rocke!. . . und dies Alles ist wirklich wahr!. . . Darüber könnte man wahnsinnig werden, Herr Procurator« oder auf der Stelle des Todes sein!«
»Schon gut, schon gut,« erwiderte der Beamte, der immer fester von der Schuld des jungen Mannes überzeugt wurde; »das ist jetzt Sache der Justiz.«
»Und wozu soll diese Confrontation mit den Leichnamen nützen?«
»Die Justiz hofft, daß der Anblick der Schlachtopfer einen solchen Eindruck auf den Verbrecher machen wird, daß er eingesteht.«
»Aber es wird mir wohl erlaubt sein, den Leichnam noch einmal zu umarmen?«
»Sie wollen ihn umarmen?«
»Nun ja, meinen guten Oheim, der mich schon so lieb hatte, der so gut gegen mich war, der mich bei sich behalten wollte, und den ein Bösewicht nebst der guten alten Frau schändlicher Weise ermordet hat, um ihm eine elende Summe von zwölfhundert Franken zu rauben?. . . Warum hat man mich nicht ermordet?. . . Was wird mein Vater, was wird meine Mutter sagen, wenn sie den Tod des Bruders erfahren, wenn sie erfahren, daß ihr Sohn verhaftet und dieses entsetzlichen Verbrechens angeklagt ist!«
Heiße Thränen entströmten den Auen des jungen Mannes; Er war so fest überzeugt, daß Jedermann von seiner Unschuld überzeugt sein und daß er bei Jedem Theilnahme finden müsse, daß er, das Bedürfniß fühlend, seinen Schmerz in den Busen irgend eines Menschen auszugießen, den Kopf auf die Schulter des königlichen Procurators legte, der von seinem Sitze aufgestanden war.
Dieser stieß ihn sanft zurück. So sehr er auch an Scenen dieser Art gewöhnt war, so konnte er sich doch einer gewissen Rührung nicht erwehren.
»Dieser Mensch ist kein Mörder,« sagte der eine der beiden Gensd’armen« welche mit dem Gefangenen in das Kabinet des königlichen Procurators gekommen und an der Thür stehen geblieben waren, leise zu seinem Kameraden. »Wenn ich der königliche Procurator wäre, so würde ich es ohne Weiteres auf meine Gefahr nehmen und ihn entlassen.«
»O, o! erwiderte der Andere, was bedeutete: »Das wäre doch viel gewagt.«
»Besorgen Sie einen Wagen, Gensd’armen,« sagte der Procurator, und entfernen Sie die Menschen, die sich unten versammelt haben werden.«
»Ich danke Ihnen dafür,« sagte Jean.
Bald darauf stieg der angebliche Mörder und der königliche Procurator, sowie der Instructionsrichter und der Polizeicommissair, die man eingeladen hatte, in den herbeigeholten Wagen, welcher die Straße nach Lafou einschlug.
Bei der Ankunft in dem Dorfe sprach Jedermann nur von dem in der Nacht begangenen entsetzlichen Verbrechen.
Man hatte den Weg fast schweigend zurückgelegt. Was geschah, war für Jean so unerhört, so überraschend, so betäubend, daß er endlich vergaß, wohin er sich begab, daß sich die Vergangenheit mit der Gegenwart, das was er bis zum heutigen Morgen gethan, mit dem, was er hatte thun wollen, in seinem Kopfe unter einander wirrte, so daß er auf der Straße nach Beaucaire zu fahren glaubte, daß er nicht mehr daran dachte, welches gräßlichen Verbrechens er beschuldigt wurde und daß er in Begleitung von zwei Gensd’armen und drei Gerichtspersonen reiste.
Er mußte sich auch wirklich einen Augenblick besinnen, ehe er sich die Bewegung erklären konnte, welche in dem Dorfe herrschte, das bei seiner Abreise an diesem Morgen so ruhig und friedlich gewesen war.
»Da kommt er! Der ist’s!« sagte eine Stimme aus dem vor der Thür des Pfarrhauses, welche von dem Feldhüter und zwei Gensd’armen besetzt war, versammelten Volke.
Jean blickte auf und erkannte den Bauer, den er gestern Abend nach der Wohnung seines Oheims gefragt hatte.
Dieser Mann suchte jetzt eine besondere Ehre darin, in der Untersuchung als Zeuge aufgerufen zu werden. Es giebt Menschen, welche ihrer Person eine Wichtigkeit zu geben glauben, wenn sie in einem Drama, wie das von dem wir sprechen, eine Rolle spielen können, sei sie auch noch so unbedeutend. Sie wollen öffentlich sprechen, sie wollen einen Augenblick die Aufmerksamkeit auf sich ziehen, sie wollen einige Tage ein Gegenstand der Neugierde für die alten Weiber ihres Stadtviertels und für die Portiers ihrer Straße sein. Was sie sagen werden, wissen sie in der Regel noch nicht, was sie gesagt haben, wissen sie nicht mehr, aber ihr Zweck ist erreicht und besonders denken sie nicht daran, wie schwer ihre Aussage« so unbedeutend sie auch sein möge, in der Wage der Gerechtigkeit wiegt und wie sehr ihre kleinliche Eitelkeit oft die Lage eines Verbrechers verschlimmern, oder, >was noch viel trauriger ist, zu der Verurtheilung eines Unschuldigen beitragen kann.
Der königliche Procurator, der Instructionsrichter, der Polizeicommissair und Jean Raynal traten in das Pfarrhaus.
Wie viele von den draußen Stehenden wünschten mit ihnen gehen zu können!
»Erkennen Sie die Oertlichkeit?« fragte der Instructionsrichter den Angeklagten.
»Ja,« antwortete Jean mit Ruhe« denn je mehr er nachdachte, desto unmöglich, schien es ihm, daß seine Unschuld nicht selbst den Verblendetsten und den Böswilligsten, diesen freiwillig Verblendeten, in die Augen springen mußte.
»Schreiben Sie Alles nieder, was Sie hören werden,« sagte der Instructionsrichter zu dem Polizeicommissair; dann wandte er sich wieder mit den Worten an Jean:
« »Er zählen Sie uns Alles, was gestern seit dem Augenblicke Ihrer Ankunft in diesem Hause, bis Sie es wieder verlassen haben, geschehen ist.«
Jean erzählte offen und wahrheitsgetreu Alles, was wir schon wissen und der Polizeicommissair brachte seine ganze Erzählung zu Protokoll, ohne etwas daran zu ändern.
»Jetzt wollen wir hinauf gehen,« sagte der Instructionsrichter, indem er das Gesicht des Angeklagten genau beobachtete, um zu sehen, welchen Eindruck es auf ihn machte, daß er seinen Schlachtopfern gegenüber gestellt werden