Nach Vernehmung der sämtlichen Zeugen erhob sich der Staatsanwalt und unterstützte die Anklage durch folgende Rede:
»Meine Herren Geschworenen, es giebt Verbrechen, wegen deren Ihre Gerechtigkeit sich in gar keine Diskussion mit Ihrem Gewissen einzulassen braucht und über die Sie ohne Bedenken das Verdammungsurtheil aussprechen können, wenn Sie die in Gefahr gebrachte Gesellschaft rächen wollen. Das Verbrechen, über das Sie heute zu richten haben, gehört zu dieser Klasse. Es ist unter Umständen begangen worden, welche keinen Zweifel über seinen wirklichen Urheber zulassen. Der Mörder ist der, den Sie Vor sich haben; er ist es, der seit zwei Monaten die erschwerendsten Beweise sich um ihn hat aufhäufen sehen, ohne einen einzigen derselben widerlegen zu können. Wenn in Ihrem Geiste noch der mindeste Zweifel bleiben sollte, so erinnern Sie sich der einzelnen Umstände, und der Zweifel wird schwinden, das Licht der Ueberzeugung wird an seine Stelle treten. Zum Glück kann man auf die Justiz das Wort der heiligen Schrift anwenden: Gott sprach, es werde Licht, Und es ward Licht.«
Der Staatsanwalt fuhr sich mit dein Tuche über den.Mund, damit seine Zuhörer Zeit haben sollten, ein Gemurmel der Bewunderung durch den Saal laufen zu lassen; dann fuhr er mit dem gemachten Effect zufrieden, in seiner Rede fort:
»Wenn wir die einzelnen Kettenglieder der Anklage zusammenfügen, so werden wir sehen, ob die Wahrheit nicht klar der Augen liegt. Ein einziger Mensch ist im Laufe des 15. April zu dem Pfarrer Valentin angekommen, wenn wie die drei Freunde ausnehmen, die ihn ans Abende besucht haben und von denen nicht die Rede sein kann, ein Einziger hat während der Nacht vom 15. zum 16. sein Haus wieder verlassen, und dieser Einzige ist Jean Raynal. Während der Zeit welche der Angeklagte in dem Hause seines Oheims zugebracht, ist ein Verbrechen begangen worden, oder Vielmehr zwei Verbrechen, denn es sind zwei Schlachtopfer, deren Tod wir heute zu rächen haben. Auf wen kann der Verdacht fallen, als auf den einzigen Menschen, den man an jenem Tage zu dem ehrwürdigen Pfarrer von Lafou hat kommen sehen? Und welche Beweise findet die Anklage gegen diesen Menschen? Hier werde ich fast von Mitleiden mit dem Angeklagten selbst ergriffen, der hartnäckig die That leugnet, anstatt durch ein offenes Geständniß die Gerechtigkeit milder zu stimmen. Dieser Mensch leugnet, er leugnet! und man findet bei ihm eine Summe von zwölfhundert Franken, während eine ganz gleiche Summe dem unglücklichen Pfarrer gestohlen worden ist! Er leugnet und an seinen Kleidern finden sich die Spuren des edlen Blutes, das er vergessen hat! Er leugnet, und in einem Briefe, den sein Oheim geschrieben hat zwei Stunden ehe er unter dem Stahle dieses Vatermörders fiel, finden wir daß dieser Mensch, den er wie seinen Sohn aufgenommen hat, der unseligen Leidenschaft des Spieles ergeben ist, und der fromme Greis, als ob Gott, dem er diente, eine Ahnung in ihm geweckt hatte, fügt hinzu, daß diese Leidenschaft zu allen Verbrechen führt. Er ahnete es nicht, der heilige Mann, daß er selbst das erste Opfer dieser Leidenschaft sein werde! Er leugnet, und wir kennen den ganzen Grund seines Besuchs bei seinem Oheim, und ist dieser Besuch nach einer zweiundzwanzigjährigen Uneinigkeit, dessen Resultat ein Mord ist, nicht ein Beweis mehr von der Schuld des Angeklagten, und ein so schwerer Beweis, daß die Anklage drei Personen auf die Bank hatte bringen sollen, auf der ich nur eine sehe? —«
Bei den letzten Worten hatte der Staatsanwalt Jeans beide Eltern angeblickt. Aber diese waren von ihrem Kummer so niedergedrückt, daß sie mit gesenkten Köpfen und sich bei den Händen haltend in halber Betäubung da saßen und die Worte des Staatsanwalts nur wie ein verworrenes Summen hörten, das sie nicht verstanden..
»In der That,« hob der Beamte wieder an, indem er den Aermel seiner Robe zurückzog, um seinen Bewegungen mehr Freiheit zu geben, »sammeln Sie nur Ihre Erinnerungen, denken Sie nur an die Aussagen der drei ersten Zeugen, die wir Vernommen haben: der Pfarrer von Lafou hatte bei mehreren Gelegenheiten von dem heftigen Character seines Bruders gesprochen. Was wollte denn nun dieser Neffe nach einer Feindschaft, welche zweiundzwanzig Jahre gedauert hatte? Was ist er, als der Abgesandte des Hasses? was ist er, als das Werkzeug der Rache?«
»Ja, meine Herren Geschworenen, der Angeklagte ist schuldig; ja, Sie können ihn ohne Bedenken und ohne Gewissensbisse verurtheilen. Die Gesellschaft hat das heiligste ihrer Rechte in Ihre Hände gelegt, üben Sie es aus ohne Schwäche. Ihre Mission muß Sie über die Eindrücke des großen Haufens erheben. Hier sind Sie keine Menschen, Sie sind Gewissen! Vergessen Sie nicht, daß Gott selbst gesagt hat: Wer mit dem Schwert gesündigt hat, soll durch das Schwert umkommen!«
Der Staatsanwalt ließ sich wieder nieder unter den Ausbrüchen der allgemeinen Bewunderung und das allgemeinen Beifalls.
Der Vertheidiger nahm hierauf das Wort; er erzählte die Wahrheit und deßhalb ließ sich Niemand durch seine Rede überzeugen.
Als er schwieg, drückte ihm die Frau die Hand, um ihm für die vergebliche Mühe zu danken, die er sich gegeben hatte. Es war elf Uhr Abends. Beim Scheine der Lampen, die man angezündet hatte, sah man das erhabene Gesicht des Erlösers an dem im Hintergrunde des Saales hängenden Kruzifix. Seine Augen waren zum Himmel gerichtet, mit einem Ausdruck von Seelenruhe in seinem tiefen Schmerz, als sagte er zu den Verbrechern: »Bereuet und mein himmlischer Vater wird Euch vergeben!« als sagte er zu den Schuldlosen: »Beugt den Nacken wie ich, und sterbet lächelnd, wenn man Euch verurtheilte; Ihr werdet im Himmel erhöht und die Lieblinge Gottes werden!«
Der Präsident erhob sich und sprach mit feierlicher Stimme:
»Die Geschworenen werden sich in das Berathungszimmer begeben. Die Eltern des Angektagten fordre ich auf, sich zu entfernen, während das Urtheil gesprochen wird.«
Das greise Ehepaar – denn Beide waren in zwei Monaten um zwanzig Jahre gealtert – stand auf und verließ, von zwei Huissiers geführt, den Saal, nachdem sie noch einen letzten Blick voll Thränen auf ihren unglücklichen.Sohn geworfen,der ihn mit einem Lächeln erwiderte, um ihren Muth zu stärken.
Diese Scene machte einen lebhaften Eindruck auf die Zuhörer. Während sie sich entfernten, hörten Onesimus Raynal und seine Gattin von mehreren Stimmen die Worte:
»Die armen Leute!«
Und sie sahen, daß Mancher sich die Thränen trocknete.
In diesem Augenblick hätte man die Freisprechung Jeans gewünscht, denn im Grunde ist das menschliche Herz gut.
Die Geschworenen zogen sich in das Berathungszimmer zurück.
»Man führe den Angeklagten hinaus,« sagte der Präsident.
Jean entfernte sich in Begleitung zweier Gensd’armen.
Nach einer Viertelstunde traten die Geschworenen wieder ein.
Der Obmann sprach Folgendes:
»Auf unsre Seele und Gewissen, ja, wir erklären den Angeklagten Jean Raynal der freiwilligen, mit Vorbedacht ausgeübten Ermordung seines Oheims Valentin Raynal und dessen Dienerin Toinette Belami für schuldig.«
»Man führe den Angeklagten wieder ein,« sagte der Präsident.
Jean trat ein.
»Demgemäß,,« sprach der Präsident, nachdem er und der ganze Gerichtshof, sowie die Zuhörer sich erhoben und Jeder das Haupt entblößt hatte,«.demgemäß verurtheilt das Gericht den Angeklagtem Jean Raynal, zur Strafe des Todes! – Angeklagter, haben Sie noch etwas zu sagen?«
»Nichts, Herr Präsident,« antwortete Jean mit ruhiger Stimme, »als daß auch ich bei meiner Seele und Gewissen und bei dem Gott, der uns hört und in unsere Herzen blickt, schwöre, daß ich unschuldig bin!«
Schweigend und tief erschüttert entfernte sich die Menge.
Als Jeans Vater diese Verurtheilung erfuhr, verließ er die Stadt und man hat nie wieder etwas von ihm gehört. Die Mutter des Verurtheilten wurde wahnsinnig.
Einen Monat nach dieser Sitzung las man in der Sentinelle von Nimes unter dem 16. Juli:
»Gestern hat die Hinrichtung Jean Raynals stattgefunden, dessen Prozeß unsere