»Aber Ihr müßt deshalb nicht glauben, daß Ihr bald sterben werdet, lieber Tinguy. Fürchtet Euch nicht!«
»Warum soll ich mich denn fürchten?« sagte der Bauer, indem er einen Versuch machte, sich aufzurichten, »ich habe ja die Alten geehrt und die Kleinen geliebt; ich habe ohne Murren gelitten, ohne Klagen gearbeitet; ich habe Gott gepriesen, wenn der Hagel meinen kleinen Acker verwüstete oder wenn die Ernte fehlschlug. Nie habe ich den Armen von meiner Thür fortgewiesen. Ich habe die Gebote Gottes und der Kirche gehalten. Wenn unsere Priester sagten: Erhebet Euch und nehmet eure Gewehre, so habe ich gegen dir Feinde meines Glaubens und meines Königs gekämpft; ich bin demüthig im Siege, vertrauensvoll im Unglück geblieben; ich war stets bereit, für diese heilige Sache mein Leben zu lassen. – Und ich sollte mich fürchten! O nein, mein Fräulein; der Todestag ist für uns arme Christen der Glückstag. Ich bin ein unwissender Mann, aber ich weiß, dass dieser Tag uns mit den Großen und Glücklichen der Erde gleich macht. Wenn dieser Tag für mich kommt, wenn Gott mich zu sich ruft, so bin ich bereit und werde voll Hoffnung auf seine Barmherzigkeit vor seinem Richterstuhl erscheinen.«
Das Gesicht Tinguy’s hatte bei diesen Worten einen sehr lebhaften Ausdruck angenommen, aber die letzte religiöse Begeisterung des armen Bauers erschöpfte vollends seine, Kräfte.
Er sank auf sein Lager zurück und stammelte nur noch einige unverständliche Worte.
Der Pfarrer erschien. Bertha zeigte ihm den Kranken und der Geistliche, der sogleich verstand, was von ihm erwartet wurde, begann das Gebet für die Sterbenden.
Michel bat Bertha dringend sich zu entfernen, und Beide verließen die Hütte, nachdem sie vor dem Bett des armen Tinguy noch einmal gebetet hatten.
Die Nachbarn kamen nach einander und knieten nieder. Das Stübchen war nur von zwei dünnen Wachskerzen, die zu beiden Seiten eines kupfernen Crucifixes brannten, spärlich beleuchtet.
Plötzlich wurde die feierliche Stille durch den nahen Schrei eines Uhu unterbrochen.
Die Bauern erschraken.
Der sterbende dessen Augen bereits ihren Glanz verloren hatten, richtete den Kopf auf.
»Ich komme!« sagte er mit röchelnder Stimme, »ich folge dem Führer!«
Dann versuchte er, als Antwort auf den so eben vernommenen Ruf, den Schrei der Eule nachzuahmen; aber er hatte nicht mehr die Kraft, der Athem ging ihm aus, der Kopf sank zurück – er war todt!
Ein Fremder erschien nun in der Hütte.
Es war ein junger Bauer in Bretagner Tracht. Er trug einen Hut mit breitem Rande, eine rothe Weste mit übersilberten Knöpfen, blaue Jacke mit rothen Schnüren und hohe lederne Kamaschen. Er hatte einen mit Eisen beschlagenen Stock, wie ihn die Landleute auf Reisen zu tragen pflegen.
Er schien erstaunt über die Scene, die er vor Augen hatte, aber er richtete an Niemand eine Frage. Er kniete nieder und betete; dann trat er an das Bett und betrachtete das bleiche Gesicht des armen Tinguy; zwei Thränen rollten über seine Wangen; er wischte sie ab und entfernte sich ohne ein Wort gesprochen zu haben.
Die Bauern waren gewöhnt an die religiöse Sitte, an einem Sterbehause nicht vorbeizugehen, ohne ein kurzes Gebet zu verrichten; sie wunderten sich daher keineswegs über die Anwesenheit des Fremden und ließen sein Fortgehen ganz unbeachtet.
Der Wanderer fand einige Schritte von der Hütte einen andern noch jüngeren und kleineren Bauer, der sein Bruder zu seyn schien. Der letztere ritt ein nach der Landessitte aufgezäumtes Pferd.
»Nun, wie steht’s, Rameau-d’or?« fragte der kleine Bauer.
»Es ist kein Platz für uns im Hause; ein anderer Gast ist eingezogen, der es ganz für sich in Anspruch nimmt.
»Was für ein Gast?«
»Der Tod.«
»Wer ist denn gestorben?«
»Derselbe, der uns beherbergen sollte. Ich würde wohl sagen: wir wollen den Tod als Beschützer anrufen, wir wollen uns verbergen unter einem Ende des Leichentuchs, das Niemand aufheben wird; aber ich habe gehört, daß Tinguy am Nervenfieber gestorben ist und obgleich die Aerzte die Ansteckung leugnen, will ich Sie doch nicht in solche Gefahr bringen.«
»Fürchten Sie nicht, daß man Sie erkannt haben könnte?«
»Unmöglich! Es waren acht bis zehn Personen, Männer und Weiber, in der Hütte und beteten. Ich trat ein, kniete nieder und betete wie die Andern. Dies thut in solchen Fällen jeder Bauer aus der Bretagne oder Vendée.«
»Was ist jetzt zu thun?« fragte der Jüngere.
»Ich habe Ihnen schon gesagt, wir hatten die Wahl zwischen dem Schlosse meines Cameraden und der Hütte dieses armen Landmannes, der unser Führer seyn sollte; zwischen dem Luxus von Prunkgemächern mit geringer Sicherheit und der kleinen ärmlichen Hütte, wo wir ein schlechtes Bett und Buchweizenbrot, aber völlige Sicherheit gefunden haben würden. Der liebe Gott hat den Ausschlag gegeben. Wir haben keine Wahl mehr, wir müssen uns also mit dem Luxus begnügen.«
»Sie sagen aber, daß wir im Schlosse nicht sicher sind?«
»Das Schloß gehört einem Freunde von mir, dessen Vater unter der Restauration zum Baron ernannt wurde. Der Vater ist todt. Das Schloß wird jetzt von seiner Witwe und seinem Sohne bewohnt. Wenn der Sohn allein wäre, so würde ich ganz unbesorgt seyn; er ist wohl schwach und wankelmüthig aber ein guter, ehrlicher Mensch. Aber seine Mutter halte ich für selbstsüchtig und ehrgeizig, und das beunruhigt mich.«
»Eine Nacht können wir es wohl wagen. Sie sind nicht unternehmend, Rameau-d’or!«
»Allerdings, sobald nur meine eigene Sicherheit in’s Spiel kommt; aber ich bürge dem Vaterlande oder wenigstens meiner Partei, für das Leben —«
»Für das Leben Petit-Pierre’s wollen Sie sagen. Wir sind erst zwei Stunden unterwegs, und ich habe schon das zehnte Pfand von Ihnen zu fordern.«
»Es soll das letzte Mal seyn, Mad – Petit-Pierre. wollte ich sagen. Von jetzt an kenne ich Sie nur unter dem Namen – und als meinen Bruder.«
»Kommen Sie, damit wir bald ein Nachtlager im Schlosse erhalten. Ich bin so müde, daß ich in dem Schlosse einer verzauberten Prinzessin einkehren würde.«
»Wir wollen einen Seitenweg nehmen; wir sind dann in zehn Minuten dort,« sagte der junge Bauer. »Setzen Sie sich so bequem wie möglich im Sattel zurecht; ich gehe voran und Sie brauchen mir nur zu folgen, wir könnten uns sonst verirren.«
»Warten Sie,« sagte Petit-Pierre und sprang vom Pferde.
»Was wollen Sie thun?«s fragte Rameau-d’or mit Besorgniß.
»Sie haben am Todtenbett des armen Bauers gebetet,«, sagte Petit-Pierre, »ich will Ihrem Beispiel folgen —«
»Was fällt Ihnen ein?«
»Er war ein braver, ehrlicher Mensch,« setzte Petit-Pierre hinzu, »wenn er am Leben geblieben wäre, so würde er es für uns gewagt haben: ich bin dem Todten ein kurzes Gebet schuldig.«
Rameau-d’or nahm den Hut ab und trat auf die Seite, um seinem jungen Reisegefährten Platz zu machen.
Der kleine Bauer trat nun ebenfalls in die Hütte, nahm den Buchsbaumzweig tauchte ihn in das Weihwasser und besprengte die Leiche damit; dann kniete er vor dem Bett nieder, verrichtete sein Gebet und entfernte sich, ohne daß seine Anwesenheit mehr beachtet wurde, als vorhin das Erscheinen seines Reisegefährten beachtet worden war.
Er ging wieder zu Rameau-d’or, so wie dieser fünf Minuten früher zu ihm gekommen war.
Rameau-d’or half ihm aufs Pferd und ging voran. Petit-Pierre folgte schweigend auf dem kaum sichtbaren Feldwege welcher, wie schon erwähnt, in gerader Richtung nach dem Schlosse La Logerie führte.
Als sie kaum fünfhundert Schritte querfeldein gewandert waren, stand Rameau-d’or still und hielt das Pferd Petit-Pierre’s an.
»Was gibts?« fragte dieser.
»Ich