Bertha ging hinein, wahrscheinlich um dem Kranken die Ankunft des Arztes zu melden.
Michel blieb vor der Thür, um ihn zu erwarten.
Als er ihn in dem offenen Einspänner ankommen und in so grotesker Weise geschüttelt sah, freute er sich, daß er den Weg zu Fuß gemacht hatte.
Bertha würde den jungen Baron freilich nicht auf dem fast bäuerischen Fuhrwerke gesehen haben, wenn sie, wie sie es soeben gethan, auf das Rasseln der Räder in die Hütte geeilt wäre. Aber würde sie nicht gewartet haben, bis sie ihn gesehen?
Michel hielt dies für mehr als wahrscheinlich, und er fühlte in seinem Herzen wenigstens den sanften Kitzel der Eitelkeit, wenn nicht den stürmischen Triumph der Liebe.
XII.
Der getreue Adel
Als der Doktor Roger in das Krankenzimmer trat, hatte Bertha ihren Platz vor dem Bette wieder eingenommen.
Der erste Gegenstand, der ihm in die Augen fiel, war die anmuthige Gestalt, welche wie ein Schutzengel an dem Lager erschienen war. Er erkannte sie sogleich, denn er hatte sie oder ihre Schwester sehr oft schon in den Hütten kranker Landleute angetroffen.
»Kommen Sie, Doctor,« sagte sie, »kommen Sie geschwind! Der arme Tinguy phantasiert.«
Der Doctor trat näher.
»Beruhigt Euch, Freund,« sagte er, die Hand des Kranken fassend.
»Laßt mich!« sagte Tinguy unruhig »Laßt mich – ich muß aufstehen – man erwartet mich in Montaigu.«
»Nein, lieber Tinguy,« sagte Bertha, »man erwartet Euch noch nicht.«
»Ja wohl, Fräulein, diese Nacht wird man mich suchen —«
Schweigt, Tinguy,« mahnte Bertha, »bedenket, daß – Ihr trank seyd, und daß der Doctor Roger hier ist.«
»Der Doktor Roger gehört zu uns, wir können in seiner Gegenwart Alles sagen. Er weiß, daß man mich erwartet, daß ich aufstehen und nach Montaigu gehen muß.«
Der Doctor und das Fräulein wechselten einen Blick.
»Massa,« sagte der Doktor.
»Marseille,« antwortete Bertha.
Beide reichten einander die Hand.
Bertha wandte sich wieder zu dem Kranken.
»Ja, es ist wahr,« sagte sie, sich zu ihm neigend, »aber es ist Einer hier, der nicht zu uns gehört —« sie sprach noch leiser, so daß Tinguy allein sie verstehen konnte, »und dieser Eine ist der junge Baron de La Logerie.«
»Ja, es ist wahr,« sagte der Kranke, »er gehört nicht zu uns. Aber sagen Sie ihm nichts. Courtin ist ein Verräther. Aber wer soll denn nach Montaigu gehen, wenn ich nicht gehe?«
»Jean Oullier soll gehen. Seyd nur ruhig, Tinguy.«
»O, wenn Jean Oullier geht,« versetzte Tinguy, »so kann ich zu Hause bleiben. Er ist flink auf den Füßen und trifft gut —«
Er lachte laut auf, aber seine Kräfte schienen erschöpft, und er sank auf sein Bett zurück.
Der junge Baron hatte dieses Gespräch belauscht, aber nur einige ihm nicht verständliche Worte davon erhascht. Er hatte nur verstanden: »Courtin ist ein Verräther,« und aus einem Seitenblicke des Fräuleins hatte er geschlossen, daß von ihm die Rede war.
Er trat mit gepreßtem Herzen näher: es handelte sich offenbar um ein Geheimnis, in welches er nicht eingeweiht war.
»Mein Fräuleins sagte er zu Bertha, »wenn ich jetzt lästig oder nicht mehr nützlich bin, so sprechen Sie nur ein Wort, und ich entferne mich.«
Es lag in diesen Worten ein so wehmüthiger Ausdruck, daß Bertha gerührt wurde.
»Nein,« sagte sie, »bleiben Sie, wir brauchen Ihren Beistand noch. Helfen Sie Rosine bei der Bereitung der Arzneien, ich will unterdessen mit ihm über die Behandlung des Kranken sprechen. – Doctor,« sagte sie leise, »geben Sie den Beiden etwas zu thun; Sie müssen mir sagen, was Sie wissen, und ich will Ihnen sagen, was ich weiß. – Nicht wahr, Herr Baron, Sie werden so gütig seyn, Rosinen zu helfen?«
»Ich werde thun, was Sie wollen, mein Fräulein,« antwortete Michel, »befehlen Sie und ich gehorche.«
»Sie sehen, Doctor,« sagte Bertha, »Sie haben zwei willige Gehilfen.«
Der Doctor eilte an seinen Wagen, nahm eine Flasche Seidlitzwasser und einen Beutel mit Senfmehl heraus.
»Ziehen Sie den Kork ab,« sagte er zu dein jungen Baron, indem er ihm die Flasche reichte, »und geben Sie dem Kranken alle zehn Minuten ein Glas voll zu trinken – Und dies,« sagte er zu Rosine, indem er ihr das Senfmehl reichte, »dies rühre in siedendes Wasser ein; der Teig wird deinem Vater auf die Füße gelegt.«
Der Kranke lag wieder in dem bewußtlosen Zustande, der eben durch die kurze Aufregung unterbrochen worden war.
Der Doctor sah, daß er ihn für den Augenblick der Pflege des jungen Barons überlassen konnte, und trat rasch auf Bertha zu.
»Wir haben uns als Gesinnungsgenossen erkannt, mein Fräulein,« sagte er, »sagen Sie, was wissen Sie?«
»Ich weiß, daß die Prinzessin den 21. April von Massa abgereist ist, und den 29. oder 30. zu Marseille gelandet seyn muß. Es ist heute der 6. Mai, Madame muß gelandet und der Süden im vollen Aufstande seyn.«
»Ist dies Alles, was Sie wissen?« fragte der Doktor.
»Ja, Alles,« antwortete Bertha.
»Haben Sie die Abendblätter vom 3. nicht gelesen?«
Bertha lächelte.
»Wir bekommen im Schlosse Souday keine Zeitungen,« sagte sie.
»Es ist Alles vereitelt,« sagte der Doctor.
»Wie! Alles ist vereitelt?«
»Der ganze Plan ist gescheitert.«
»Unmöglich! Mein Gott! was muß ich hören!«
»Die reine Wahrheit. Nach einer glücklichen Ueberfahrt auf dem »Carlo Alberto« ist Madame einige Meilen vor Marseille gelandet. Ein Führer, der sie erwartete, brachte sie in ein einsames, von Wald und Felsen umgebenes Haus. Sie hatte nur sechs Personen bei sich.«
»Weiter, weiter!«
»Sie schickte sogleich einen Eilboten nach Marseille, um den Leiter der Verschwörung von ihrer Landung in Kenntniß zu setzen und das Resultat der Versprechungen, welche sie nach Frankreich gelockt, zu erwarten.«
»Und was geschah weiter?«
»Abends kam der Bote zurück mit einem Briefe, welcher der Prinzessin zu ihrer glücklichen Ankunft Glück wünschte und ihr meldete, daß sich Marseille am folgenden Tage erheben werde. Der Aufstand begann allerdings am folgenden Tage, aber Marseille nahm keinen Theil daran, so daß er völlig mißlungen ist.«
»Und die Prinzessin?«
»Man weiß noch nicht, wo sie ist; man hofft, daß sie wieder an Bord des »Carlo Alberto« gegangen ist.«
»Die Memmen!« sagte Bertha leise, aber mit Heftigkeit. »Ich bin nur ein schwaches Weib, aber wenn Madame in die Vendée gekommen wäre, so würde ich manchen Männern ein Beispiel gegeben haben. – Adieu Doktor, ich danke Ihnen.«
»Sie wollen uns verlassen?«
»Mein Vater muß Alles wissen, es sollte diesen Abend Versammlung im Schlosse Montaigu seyn. Ich eile nach Souday zurück. Ich empfehle Ihnen meinen armen Kranken; nicht wahr, Sie werden sich seiner eifrig annehmen? Geben Sie Ihre Weisungen; wenn sich nichts Neues ereignet, so werde ich oder meine Schwester die nächste Nacht bei ihm wachen.«
»Wollen Sie meinen Wagen nehmen? Ich gehe zu Fuß, und morgen können Sie mir ihn durch Jean Oullier oder einen Anderen zurückschicken.«
»Ich danke Ihnen; ich