Matisse / Матисс. Книга для чтения на немецком языке. Александр Иличевский. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Александр Иличевский
Издательство: КАРО
Серия: Russische moderne Prosa
Жанр произведения: Зарубежная образовательная литература
Год издания: 2006
isbn: 978-5-9925-1410-0
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gehörten, und so machte er sich mit der Bibel vertraut. Schon bald löste er die Fragen um Religion mithilfe folgender Überlegung, die er während eines romantischen Flirts zum Einsatz brachte[49] (Mondnacht, Kunzewo, die Gegend bei Stalins Datscha, kleine Pfade, der erste, riesenhohe Zaun, weit weg hinter den Bäumen blitzt die Landstraße als Strichellinie aus Scheinwerfern auf, weiße Ruhebänke, auf denen die flammende Wissenschaft der Liebe betrieben wird, trockene Finger streifen am Gürtel entlang, rutschen nach oben, treffen auf zarte Geschmeidigkeit):

      »Vielleicht erfinde ich das Fahrrad – aber der theoretischen Physik zufolge ist klar, dass die Möglichkeit einer die Realität voraussagenden Theorie per se ein Gottesbeweis ist, denn die Frage nach dem Aufbau des Weltgebäudes wird formuliert als Suche nach einer Art Homöomorphismus …«

      An dieser Stelle wurde ihm endgültig mit einem wissbegierigen Kuss der Mund gestopft – und danach räsonierte Koroljow nie wieder über Religion. Nie wieder.

      XXXIII

      Die Erinnerungen brachen selten als Lawine über ihn herein. Der Reihe nach durchforstete er die Sinne, ließ sie versuchsweise hinab in den Brunnen der Erinnerung, in dem Granulate von Vertrautem schimmerten.

      Das Erste in der Schule war der Geschmacks- und Geruchssinn. Da war der Geruch der Paste im Kugelschreiber, die katastrophal ausgelaufene Mine – die Finger werden an der Hose der Schuluniform abgewischt, die genauso blau ist wie die verschmierten Handflächen, wie die Winterdämmerung in der fünften Stunde. Dann noch der Metallgeruch der Kugel, bis zur Weißglut gejagt von einem unendlichen Diktat im Stile Scheherazades, bei dem eifrig mitgeschrieben wurde, die Nase schon fast auf der Tischplatte: Je tiefer er sich herabbeugte, desto deutlicher nahm er diese Geruchsnuance wahr. So jagten sie, die Wahlfach-Sklaven, beim Knistern der bis zum nervösen Zucken abgehetzten Lampe nicht die besten von Paustowskis Werken Seite um Seite durch, bis die Hand schmerzte und verkrampfte. Von wegen »Wir schreiben, wir schreiben, jetzt sind unsere Finger müd«* – kaum hatte er es geschafft, den Kuli einmal herunterzuschlagen wie ein Fieberthermometer, da kritzelte er schon hastig weiter im Fangenspiel mit der von wollüstiger Deklamation fortgetragenen Lehrerin.

      Dann der widerwärtige Gestank des feuchten Lappens, mit dem Syntaxanalysen oder niederstürzende Strahlensatz- Möwen an der Tafel verwischt wurden – zusammen mit eben diesem Gestank.

      Dann der geheimnisvolle, anziehende Geschmack von zerbissener Kreide: Unter dem Mikroskop verwandelt sich das gebrochene Schüppchen, das gegen die schlaffe Glasmalerei einer beißenden, glitschigen Zwiebel eingetauscht wird, in ein fantastisches Mosaik aus Planktonmuscheln des frühen Paläozoikums. Das abgestorbene, blendende Weiß einer in der Faust zerdrückten Ebene aus Sedimentgestein: wie Nussschalen verstreute Nullen einer Datierung.

      Dann die frühreifen Ausmaße, von denen die Hälfte der Mädchen befallen wurde und denen ein Pantagruel’sches Einheitensystem zugrunde lag. In der Klasse herrschte ein Massenmatriarchat, das nicht so sehr auf ritterlicher Unterwürfigkeit als vielmehr auf physischer Dominanz beruhte.

      In den Pausen dann das unbeschreiblich leckere Zusammenspiel aus süßem Sandgebäck und Tomatensaft. Der Ranzen roch immer nach Holzleim, mit dem die Lehrbuchrücken geklebt waren, und nach dem zerquetschten Apfel, den man als Nachmittagsimbiss bekommen hatte.

      Außer den Äpfeln gab es in der großen Pause den Geschmack von Fruchtkefir aus einem Riesenfass mit einer zinnoberroten Hieroglyphe als Inventarnummer. Der Gernegroß Saweli trank elf Becher, nachdem er in der Zeitschrift Wissen ist Macht gelesen hatte, dass Sauermilchprodukte Alkohol enthalten.

      Dann der Geruch von Holzspänen, die zauberhaft auf die Werkbank niederrieseln wie Pinocchios seidig-durchsichtige Löckchen: Unter dem Hobel singt die Kiefer. Der Geruch des heißen, kurz aufrauchenden Kurvenschnitts im Sperrholz, das unter der auf Hochtouren laufenden Laubsäge nachdunkelt. Der betörende Gestank des Treibstoffs, der in den Tank des leinengesteuerten Modellflugzeugs gegossen wird. Das angesengte Pfeifen des nach einer halben Umdrehung anspringenden Motors, anrollen, abheben, Schraube, Fassrolle, Senkrechtflug, Kurve Richtung Pappel, Millimeterarbeit unter dem Ast hindurch, Kehre, kühner Anflug zum Looping – ausweglos und endlos –, dann Sturzflug in den Boden: der Geruch vom Klebstoff der Längsträger.

      Der süß-salzige Geschmack im Mund, wenn man eins auf die Nase bekam[50] und mit geschwollener Lippe den Rotz hochzog: Die Prügeleien fanden bei den Garagen statt, hinter dem Zaun, neben dem durchgerosteten Pobeda. Aus derselben Ecke – der Geschmack der bei einem Treueschwur zerkauten Erde.

      Der Herbst riecht wehmütig nach Antonowka-Äpfeln und Blättern, die die Kinder während des Sportunterrichts im Stadtpark zusammenraffen: Husch-husch, die einen beim Fangenspiel, die anderen beim Verstecken. Rita nimmt Anlauf, springt und zieht ihn mit auf einen Haufen flammender Ahornblätter, der an der einen Seite bereits ein wenig raucht: Sich darin zu wälzen ist heiß und weich und unglaublich süß, doch plötzlich ein Blitz auf den Lippen – und Verstummen, und die Jacke ist angesengt, und Scham, und Erschütterung, und dann, im Umkleideraum, ein unfassbares, unbekanntes Getöse in der Brust wegen des perlenen Flecks auf der Unterhose, der unbegreiflicherweise nach dem Kuss aufgetaucht war. (Komischerweise stand ihm beim Widerschein dieses Flecks und bei Perlmuttknöpfen am Hemd immer der »Tran der Uferlaternen«* vor Augen.)

      Dann der fade, taubmachende Geschmack des Schnees am Fausthandschuh: auf der Schlittschuhbahn oder beim Endspurt des Fünf-Kilometer-Langlaufs. Die Loipe verlief rund um eine Gaspumpanlage, die durch eine Rohrleitung die Rülpser aus dem Erdinnern von Urengoi nach Uschgorod jagte. Die ganze Schulzeit über heulte in der Anlage ununterbrochen eine schwermütige Trauersirene. Im Sommer war dieses Geräusch eine gute Orientierungshilfe, wenn jemand Pilze oder Beeren sammeln gegangen war und sich verirrt hatte. In der Anlage hatte es einmal einen Zwischenfall gegeben, bei dem zig Hektar Wald abgebrannt waren. Um die trostlose Brandstätte zogen sie nun ihre monotonen Kreise. Mitten in dem verschneiten Zauberwald schürte dieser riesige Aschekrater eine untergründige Angst. Unbemerkte Geister totgeborener Hoffnungen, frühgeborene Ideen, die sich ins Leben drängten, streunten zum wehmütigen Geheul der Turbinen durch die dichten Staketen der verbrannten Stämme. Damals wusste Koroljow nicht, dass die Sache in der Grenzstadt Uschgorod noch nicht erledigt war, dass die donnernde Ladung der Anlage weiter durch die Rohre raste – nach Warschau, Prag, Berlin, Belgrad, Dubrownik, Triest, Venedig – und sich als gelb-blaue Seerosen an den Herdringen in Wohnungen und Palazzi ausbreitete und über Töpfen, Schmorpfannen und Kaffeekochern duftende Dämpfe entließ, die sich auflösten über der Lagune, über den Kanälen und Plätzen des »aufgeblähten Croissants«*, der »ertrunkenen Schönen«*. Der Zivilisation.

      XXXIV

      Die Bö des großen Umbruchs trübte Koroljows Jugendjahre. Das schmutzige Hellblau ihrer Wände zog sich über ihm zusammen wie der düstere Himmel über einem leeren Rettungsboot.

      Manche Erinnerungen brannten. So wie die Handflächen, wenn man im Tarzanflug am Seil von der Turnhallendecke hinabschießt.

      Das Klirren eines zerbrochenen Kreidestücks.

      Das Poltern der Schulbänke.

      Das Dröhnen der Klingel.

      Das Feuerwerk.

      Das Feuerwerk wurde auf einem unbebauten Gelände abgeschossen, in den Flussniederungen des Setun, wo es eine spezielle Betonbrüstung für Salvenwerfer gab. Sie rannten dicht an die Brüstung. Sahen das Zeichen des Kommandanten. Schauten hoch, dem jaulenden, senkrecht emporschießenden Stängel hinterher, an dem nach kurzer Pause strahlende Astern erblühten, die wie das Fangnetz eines Gladiators ein leuchtendes Spinnennetz in den weiten Himmel warfen. Direkt nach dem Aufblitzen musste man sich hinhocken und die Hände auf den Hinterkopf legen, damit man keine Papphülsen abbekam. In der Nähe bauten sie sich im Frühling oberhalb des Setun Baumhäuser – Laubhütten auf Bretterbohlen, die sie an den Ästen geeigneter Weiden befestigten. Dort alberten sie herum, setzten sich angekokelte halbrunde Saluthülsen als Kippas auf, büffelten Landawschitz Band eins*, knackten die Aufgaben für die Aufnahmeprüfung an der Fakultät für Mechanik und Mathematik, plagten sich mit stereometrischen Übungen aus dem Lehrbuch


<p>49</p>

zum Einsatz bringen – применить, ввести в действие

<p>50</p>

eins auf die Nase bekommen (разг.) – получить удар в нос