Über den zwei Sofas lagen weiße Tücher. Emily überlegte, ob sie sie entfernen sollte, doch das würde nur eine Staubwolke aufwirbeln. Nach dem Rauch, der aus dem Kamin gequollen war, glaubte sie nicht, dass ihre Lunge das aushalten würde. Und außerdem sah es ziemlich gemütlich aus, wie Daniel neben dem Kamin auf dem Boden saß, weshalb sie sich neben ihm niederließ.
„Also“, meinte Daniel, während er seine Hände am Feuer wärmte. „Wir haben es immerhin geschafft, dich aufzuwärmen. Aber im Haus gibt es keinen Strom und ich nehme nicht an, dass sich in deinem Koffer Laternen oder Kerzen befinden.“
Emily schüttelte den Kopf. Ihre Koffer waren voller unwichtiger Dinge, nichts, was man gebrauchen konnte, nichts, was sie hier wirklich weiterbrachte.
„Mein Vater hatte früher immer Kerzen und Streichhölzer“, sagte sie. „Er war immer vorbereitet. Ich nehme an, ich hatte erwartet, dass es immer noch einen Schrank mit diesen Dingen gäbe, aber nach zwanzig Jahren…“
Sie schloss ihren Mund, plötzlich wurde ihr bewusst, dass sie eine Erinnerung an ihren Vater laut ausgesprochen hatte. Das tat sie nicht oft, normalerweise behielt sie ihre Gefühle für ihn tief in sich verborgen. Die Leichtigkeit, mit der sie gerade eben von ihm gesprochen hatte, überraschte sie.
„Dann können wir ja einfach hier drinnen bleiben“, erwiderte Daniel mit sanfter Stimme, als ob er erkannt hätte, dass Emily gerade eine schmerzhafte Erinnerung durchlebte. „Im Licht des Feuers kann man mehr als genug sehen. Willst du einen Tee?“
Emily runzelte die Stirn. „Tee? Wie genau willst du ihn denn ohne Strom kochen?“
Daniel lächelte, als ob er eine Art Herausforderung annehmen würde. „Schau zu und lern.“
Er stand auf und verschwand aus dem großen Wohnzimmer, nur, um wenige Minuten mit einem kleinen runden Topf zurückzukehren, der wie ein Kessel aussah.
„Was hast du da?“, fragte Emily neugierig.
„Oh, nur den besten Tee, den du jemals trinken wirst“, antwortete er und hängte den Kessel über die Flammen. „Du hast noch nie einen echten Tee getrunken, bis du nicht einen versucht hast, der über einem Feuer gekocht wurde.“
Emily beobachtete ihn, wie das Licht des Feuers über seine Gesichtszüge zuckte und sie auf eine Weise betonte, die ihn sogar noch attraktiver machte. Die Tatsache, dass er sich so auf seine Arbeit konzentrierte, verstärkte seine Anziehungskraft.
„Hier“, sagte er und hielt ihr einen Becher hin, wodurch er ihre Gedanken unterbrach sah sie abwartend an, als sie den ersten Schluck nahm.
„Oh, der ist wirklich gut“, gab Emily erleichtert zurück, endlich die Kälte aus ihren Knochen vertreiben zu können.
Daniel begann zu lachen.
„Was?“, verlange Emily zu wissen.
„Ich habe dich einfach noch nicht lachen gesehen, das ist alles“, antwortete er.
Emily wandte ihren Blick ab, auf einmal fühlte sie sich etwas verlegen. Daniel war das genaue Gegenteil von Ben und doch fühlte sie sich stark zu ihm hingezogen. Vielleicht würde sie an einem anderen Ort und zu einer anderen Zeit ihrer Lust nachgeben. Immerhin war sie sieben Jahre lang mit Ben zusammen gewesen und verdiente ein wenig Aufmerksamkeit, ein wenig Aufregung.
Doch jetzt war nicht der richtige Moment dafür. Nicht mit all dem, was gerade vor sich ging, mit ihrem Leben, das ein totales Chaos und komplett durcheinander war, und mit den Erinnerungen an ihren Vater, die ihr durch den Kopf schwirrten. Sie hatte das Gefühl, dass sie seinen Schatten sehen konnte, wo immer sie auch hinschaute: wie er mit einer jungen Emily, die sich an ihn kuschelte, auf dem Sofa saß und ihr vorlas; wie er mit einem breiten Grinsen zur Tür hereinplatzte, nachdem er auf den Flohmarkt ein paar wertvolle Antiquitäten erstanden hatte. Aber wo waren all diese Antiquitäten jetzt? All die Figürchen und Kunstwerke, Gedenkgeschirr und Geschirrstücke aus der Zeit des Bürgerkriegs? Das Haus war nicht wie es in ihrer Erinnerung in der Zeit stehen geblieben. Stattdessen hatte sie solch drastischen Auswirkungen auf das Haus gehabt, wie sie es nicht für möglich gehalten hätte.
Erneut wurde Emily von einer Welle des Trauers überrollt, als sie sich in dem staubigen, ungepflegten Zimmer umsah, das einst voller Leben und Lachen gewesen war.
„Wie konnte dieser Ort nur so zerfallen?“, rief sie plötzlich aus, wobei sie den anklagenden Ton nicht aus ihrer Stimmer verdrängen konnte. Sie runzelte die Stirn. „Ich meine, deine Aufgabe ist es doch, darauf aufzupassen, oder etwa nicht?“
Daniel zuckte zurück, als ob er von ihrer plötzlichen Aggressivität überrascht wäre. Noch vor wenigen Augenblicken hatten sie einen sanften, zärtlichen Moment miteinander geteilt und nur wenige Sekunden später machte sie ihm Vorwürfe. Daniel warf ihr einen kalten Blick zu. „Ich tue mein Bestes. Ich habe schließlich auch nur zwei Hände.“
„Es tut mir leid“, sagte Emily, die sofort einen Rückzieher machte, denn sie mochte es nicht, der Grund für Daniels dunklen Gesichtsausdruck zu sein. „Ich wollte dich nicht beleidigen. Ich meine nur…“ Sie schaute in ihren Becher und schwenkte die Teeblätter darin. „Als Kind war dieser Ort für mich wie aus einem Märchen. Er war so ehrfurchtgebietend, weißt du? So wunderschön.“ Sie schaute auf und stellte fest, dass Daniel sie intensiv musterte. „Es ist traurig, ihn so zu sehen.“
„Was genau hast du denn erwartet?“, gab Daniel zurück. „Es ist zwanzig Jahre lang vernachlässigt worden.“
Emily wandte ihren Blick traurig ab. „Ich weiß. Ich glaube, ich hatte mir immer gewünscht, dass die Zeit stehen geblieben ist.“
Stillgestandene Zeit, genau wie das Bild ihres Vaters, das sie in ihrem Kopf hatte. Darin war er immer noch vierzig Jahre alt, war keinen einzigen Tag gealtert und schaute immer noch so aus, wie sie ihn zuletzt gesehen hatte. Emilys Entschluss, das Haus übers Wochenende wieder auf Vordermann zu bringen, wurde immer stärker. Sie wollte nichts mehr, als es zu restaurieren, um einen Teil seines früheren Glanzes wiederherzustellen. Vielleicht wäre das so, als würde sie ihren Vater wieder zurückholen. Sie könnte es für ihn tun.
Emily trank den letzten Schluck Tee aus und stellte die Tasse ab. „Ich sollte ins Bett gehen“, sagte sie. „Es war ein langer Tag.“
„Natürlich“, erwiderte Daniel, während er aufstand. Er bewegte sich schnell, schlenderte aus dem Raum und den Flur entlang zur Haustür, ohne darauf zu achten, ob Emily mitkam. „Wenn du Hilfe brauchst, ruf mich einfach an, okay?“, fügte er hinzu. „Ich wohne in dem Kutschenhaus dort drüben.“
„Das wird nicht nötig sein“, erwiderte Emily empört. „Ich komme alleine zurecht.“
Daniel riss die Haustür auf, wodurch ein starker Lufthauch voller Schnee hereinwehte. Er kauerte sich in seine Jacke, bevor er sie noch einmal über die Schulter hinweg anschaute. „Mit Stolz wirst du hier nicht weit kommen, Emily. Es ist nicht schlimm, nach Hilfe zu fragen.“
Sie wollte ihm hinterherschreien, mit ihm streiten, um seine Behauptung, sie sei stolz, zu widerlegen, doch stattdessen starrte sie auf seinen Rücken, als er inmitten des umherwirbelnden Schnees im Dunkel der Nacht verschwand.