Stattdessen ging Emily zurück ins Wohnzimmer, um die letzte Wärme des Feuers in aufzusaugen. Im Bücherregal standen immer noch ein paar Exemplare – Der geheime Garten, Fünf Kinder, Es – Klassiker, die ihr Vater ihr vorgelesen hatte. Aber wo war der Rest? Was war mit den Besitztümern ihres Vaters geschehen? Sie waren an jenen unbekannten Ort verschwunden, wie auch ihr Vater selbst.
Als die Glut verlosch, legte sich wieder die Dunkelheit um sie, was zu ihrer düsteren Stimmung passte. Sie konnte die Müdigkeit nicht länger vertreiben, es war an der Zeit, die Stufen hinaufzugehen.
Gerade als sie das Wohnzimmer verließ, hörte sie ein seltsames, kratzendendes Geräusch an der Haustür. Zuerst dachte sie, dass ein wildes Tier nach Essensresten suchte, doch dafür war das Geräusch zu deutlich.
Mit klopfendem Herzen ging sie auf leisen Sohlen den Flur entlang zur Haustür, an die sie ihr Ohr drückte. Was auch immer sie dachte, gehört zu haben, war jetzt weg. Alles, was sie hören konnte, war der heulende Wind. Doch etwas reizte sie, die Tür zu öffnen.
Sie zog sie auf und sah, dass auf der Stufe davor Kerzen, eine Laterne und Streichhölzer lagen. Daniel musste zurückgekommen sein und sie für sie dorthin gelegt haben.
Sie schnappte sich die Sachen und nahm widerstrebend sein Hilfsangebot an, auch wenn es ihren Stolz verletzte. Doch zur selben Zeit war sie so dankbar, dass sich jemand um sie sorgte. Sie hatte zwar ihr Leben aufgegeben und war zu diesem Ort geflohen, aber sie war nicht mehr komplett alleine hier.
Emily entzündete die Laterne und brachte endlich genug Mut auf, um in das obere Stockwerk zu gehen. Während das sanfte rote Licht der Laterne sie die Treppe hinaufführte, nahm sie den Anblick der Bilderrahmen an den Wänden in sich auf, deren Bilder im Laufe der Zeit verblasst waren und von Spinnenweben und Staub bedeckt waren. Die meisten Bilder waren Aquarelle aus der Gegend – Segelschiffe auf dem Meer, immergrüne Bäume im Nationalpark – doch nur eines davon war ein Familienportrait. Sie blieb stehen und starrte auf das Bild, sie betrachtete sich selbst als kleines Kind. Sie hatte dieses Bild komplett vergessen, hatte es in eine Ecke ihres Gedächtnisses verdrängt und zwanzig Jahre lang weggeschlossen.
Nachdem sie ihre Gefühle hinuntergeschluckt hatte, ging sie weiter die Treppe hinauf. Die alten Stufen knarzten laut unter ihren Füßen und sie stellte fest, dass einige von ihnen gesprungen waren. Sie waren durch jahrelange Nutzung abgetreten und konnte sie sich wieder daran erinnern, wie sie als Kind in ihren roten Sandalen genau diese Treppe hinauf und hinuntergerannt war.
Am oberen Ende der Treppe erleuchtete die Lampe den langen Korridor – die zahlreichen Türen aus dunklem Eichenholz sowie das Fenster am anderen Ende, das vom Boden bis zur Decke reichte und jetzt mit Brettern verschlagen war. Ihr altes Schlafzimmer befand sich hinter der letzten Tür auf der rechten Seite, gegenüber dem Badezimmer. Sie konnte es nicht ertragen, eines der beiden Zimmer zu betreten. Ihr Schlafzimmer enthielt zu viele Erinnerungen, die auf einmal freigesetzt würden. Und genauso wenig hatte sie Lust, nachzusehen, welche gruseligen Krabbeltiere sich in den letzten Jahren im Badezimmer eingenistet hatten.
Stattdessen stolperte Emily den Flur entlang, an einer antiken, verzierten Kiste vorbei, an der sie sich früher oft ihren Zeh gestoßen hatte, und betrat schließlich das Zimmer ihrer Eltern.
Im Licht der Laterne konnte Emily sehen, wie viel Staub auf dem Bett lag und wie sehr die Bettwäsche im Laufe der Jahre von den Motten zerfressen worden war. Die Erinnerung an das schöne Himmelbett ihrer Eltern zerbrach in ihrem Kopf, als sie mit der Realität konfrontiert wurde. Zwanzig Jahre Vernachlässigung hatten den Raum verwüstet. Die Vorhänge waren schmutzig und voller Spinnenweben, es sah so aus, als hätten in ihnen ganze Generationen an Spinnenfamilien gehaust. Eine dicke Staubschicht hatte sich auf alles gelegt, auch auf den Schminktisch am Fenster und den kleinen Hocker, auf dem ihre Mutter vor vielen Jahren gesessen und sich ihr Gesicht vor dem Spiegel mit nach Lavendel riechender Creme eingerieben hatte.
Emily konnte das alles vor sich sehen, all die Erinnerungen, die sie die ganzen Jahre lang vergraben hatte. Sie konnte ihre Tränen nicht mehr zurückhalten. All die Emotionen der letzten Tage brachen über sie herein und wurden von den Gedanken an ihren Vater und dem plötzlichen Schock, als sie erkannte, wie sehr sie ihn vermisste, verstärkt.
Draußen wurden die Geräusche des Blizzards immer lauter. Emily stellte die Laterne auf das Nachttischkästchen, wodurch eine Staubwolke aufwirbelte, und machte sich bettfertig. Die Wärme des Feuers war nicht so weit hinaufgedrungen und als sie sich auszog, fühlte sich der Raum eisig an. In ihrem Koffer fand sie ihr seidenes Nachthemd, doch sie erkannte, dass es ihr hier nicht viel nützen würde. Unattraktive, lange Unterhosen und dicke Bettsocken würden sich besser eignen.
Emily zog die staubige, karmesinrote und goldene Patchwork-Tagesdecke zurück und schlüpfte ins Bett. Einen Moment lang starrte sie an die Zimmerdecke hinauf und dachte über all das nach, was in den letzten Tagen geschehen war. Einsam, kalt und mit einem Gefühl der Hilflosigkeit blies sie die Flamme der Laterne aus, überließ sich der Dunkelheit und weinte sich in den Schlaf.
KAPITEL VIER
Emily wachte am nächsten Morgen mit einem Gefühl der Orientierungslosigkeit auf. Von den verschlagenen Fenstern drang nur wenig Licht in den Raum, sodass sie einen Moment brauchte, um zu erkennen, wo sie war. Ihre Augen passten sich langsam an das Dämmerlicht an, der Raum verfestigte sich vor ihr und dann kam auch die Erinnerung zurück – Sunset Harbor. Das Haus ihres Vaters.
Erst nach einem Moment wurde ihr wieder klar, dass sie weder Arbeit noch Wohnung hatte und komplett alleine war.
Sie zwang ihren erschöpften Körper aus dem Bett. Die Morgenluft war kalt. Ihre Erscheinung in dem Spiegel des Schminktisches erschreckte sie, ihr Gesicht war von den Tränen, die sie in der vergangenen Nacht vergossen hatte, angeschwollen, ihre Haut war abgespannt und blass. Plötzlich fiel ihr wieder ein, dass sie ihrem Körper gestern nicht genug Essen gegeben hatte. Das einzige, was sie in der Nacht zuvor zu sich genommen hatte, war Daniels Tee gewesen, den er über dem Feuer gekocht hatte.
Neben dem Spiegel zögerte sie einen Moment, während sie ihren Körper in dem alten, schmutzigen Glas betrachtete und an die letzte Nacht zurückdachte – an das wärmende Feuer; daran, dass sie neben dem Kamin gesessen und mit Daniel Tee getrunken hatte; an Daniel, der sie wegen ihrer Unfähigkeit, für das Haus zu sorgen, aufgezogen hatte. Sie erinnerte sich an die Schneeflocken, die auf seinem Haar gelegen waren, als sie ihm die Tür geöffnet hatte und an die Art, wie er in dem Blizzard und in der pechschwarzen Nacht genauso so schnell verschwunden, wie er zuvor auf ihrer Türschwelle aufgetaucht war.
Ihr grummelnder Magen riss sie aus ihren Gedanken und holte sie zurück in die Gegenwart. Schnell zog sie sich an. Ihre verknitterte Bluse war viel zu dünn für die kalte Luft, weshalb sie sich die staubige Decke von Bett nahm und um die Schultern legte. Dann verließ sie das Schlafzimmer und ging barfuß nach unten.
Im unteren Stockwerk war alles still. Sie spähte durch die angelaufenen Scheiben der Haustür hinaus und war erstaunt zu sehen, dass der Schnee, obwohl der der Sturm vorüber war, nun fast einen Meter hoch lag und die Welt in ein glattes, stilles und endloses Weiß getaucht hatte. So viel Schnee hatte sie in ihrem ganzen Leben noch nicht gesehen.
Emily konnte die Fußspuren eines Vogels erkennen, der draußen auf dem Weg herumhüpfte, doch sonst unterbrach nichts die Schneedecke. Es schaute