Chloe war sprachlos. Sie hatte gerade miterlebt, wie sich Danielle im Handumdrehen von sachlich und sarkastisch in absolut wütend verwandelt hatte. Sicher, ihre Eltern waren ein schmerzhaftes Thema, aber Danielle reagierte bipolar.
»Wie lange bist du schon ohne Medikamente?«, fragte Chloe.
»Fick dich.«
»Wie lange?«
»Drei Wochen oder so. Warum?«
»Weil ich erst seit fünfzehn Minuten hier bin und schon weiß, dass du sie brauchst.«
»Oh, danke, Frau Doktor.«
»Würdest du bitte wieder anfangen, sie zu nehmen? Ich will dich bei meiner Hochzeit dabeihaben. Als Trauzeugin, erinnerst du dich? So egoistisch es auch erscheinen mag, ich möchte, dass du es wirklich genießen kannst. Also würdest du bitte wieder anfangen, sie zu nehmen?«
Die Erwähnung der Trauzeugin hatte etwas in Danielle ausgelöst. Sie seufzte und entspannte dann ihre Haltung. Sie konnte Chloe wieder anschauen und obwohl sie noch wütend war, hatte sie auch etwas Warmes an sich.
»Okay«, sagte sie.
Sie stand vom Tisch auf und ging zu einem kleinen dekorativen Weidenkorb auf der Küchentheke. Sie zog eine Rezeptflasche hervor, schüttelte eine Pille heraus und schluckte sie mit ihrem Kaffee runter.
»Danke«, sagte Chloe. Dann hakte sie noch etwas mehr nach, weil sie spürte, dass noch etwas nicht stimmte. »Ist sonst alles in Ordnung?«
Danielle dachte einen Moment darüber nach und Chloe erwischte sie dabei, wie sie einen kurzen Blick auf ihre Wohnungstür warf. Er war sehr kurz, aber mit einem Anflug von Angst, dessen war sich Chloe sicher.
»Nein, mir geht's gut.«
Chloe kannte ihre Schwester gut genug, um zu wissen, dass sie sie nicht weiter bedrängen sollte.
»Also, was zum Teufel macht man eigentlich auf so einem Straßenfest?«, fragte Danielle.
Chloe lachte; sie hatte beinahe Danielles Fähigkeit vergessen, ein Thema fallen zu lassen und ein anderes mit der ganzen Anmut eines Elefanten in einem Porzellanladen zu beginnen. Und so wurde einfach das Thema gewechselt. Chloe beobachtete ihre Schwester, um zu sehen, ob sie noch einmal mit dieser Angst in den Augen zur Tür blickte, aber es passierte nicht wieder.
Trotzdem fühlte Chloe, dass da etwas war. Vielleicht würde Danielle es ihr erzählen, wenn sie mehr Zeit miteinander verbracht hätten.
Aber was, fragte sich Chloe und warf selbst einen Blick auf die Haustür.
Und dann wurde ihr klar, dass sie ihre Schwester überhaupt nicht kannte. In manchen Dingen war sie immer noch das siebzehnjährige Gothic-Mädchen, das ihr so vertraut gewesen war. Aber es gab auch etwas Neues an Danielle ... etwas Dunkleres. Etwas, das Medikamente brauchte, um ihre Stimmung zu kontrollieren, um ihr zu helfen, zu schlafen und zu funktionieren.
Es kam Chloe in diesem Moment in den Sinn, dass sie Angst um ihre Schwester hatte und sie auf jede erdenkliche Weise helfen wollte.
Selbst wenn es bedeutete, in der Vergangenheit zu graben.
Aber nicht jetzt. Vielleicht nach der Hochzeit. Nur Gott wusste, was für Auseinandersetzungen und Stimmungsschwankungen wegen des Todes ihrer Mutter und der Inhaftierung ihres Vaters aufkommen würden. Doch Chloe fühlte die Geister ihrer Vergangenheit stärker als je zuvor, als sie mit Danielle dort saß und sich fragte, wie sehr Danielle von all dem verfolgt wurde.
Was für Geister lauerten in Danielles Kopf? Und was genau sagten sie ihr?
Wie sie einen aufkommenden Sturm spürte, wusste sie, dass alles, was Danielle unterdrückte, sie irgendwann einbeziehen würde. Ihr neues Leben. Ihr neuer Verlobter. Ihr neues Haus.
Und es würde zu nichts Gutem führen.
KAPITEL FÜNF
Danielle saß auf ihrer Couch, lehnte sich gegen Martin, ihr Bein lag über seinem, und sie war sich sehr bewusst, dass sie keine Unterwäsche unter ihrer Pyjamahose trug. Nicht, dass es eine Rolle spielen würde; irgendwie hatte er sie gestern Abend abgewiesen, trotz des fehlenden BHs und des knappen Höschens. Es schien so, als würde Martin diese ganze Sache mit der es-langsam-angehen-Sache ernst nehmen.
Sie fing auch an zu glauben, dass er entweder nur ein Gentleman war oder sich nicht sexuell zu ihr hingezogen fühlte. Letzteres war schwer zu glauben, denn sie hatte buchstäblich gespürt, wie sein Schwanz bei den vielen Malen, bei denen sie rumgemacht hatten, an ihren Beinen und Hüften rieb.
Sie hatte versucht, sich davon nicht stören zu lassen. Während sie in der Tat sexuell frustriert war, war es doch durchaus wichtig, endlich einen Mann zu finden, der mehr als nur Sex wollte.
Der heutige Abend war ein gutes Beispiel. Sie hatten beschlossen, nichts zu unternehmen, sondern nur in ihrer Wohnung zu sitzen und sich einen Film anzusehen. Zuvor hatten sie über Martins Tag gesprochen. Doch von seiner momentanen Arbeit als ITler in einer Druckerei hatte er nur wenig Spannendes zu berichten. Es war, als würde man jemandem zuhören, der erklärt, wie Buchdruckfarbe trocknet. Und Danielle hasste es, über ihren Tag zu reden. Als Barkeeperin in einem lokalen Restaurant waren ihre Tage eher eintönig. Sie saß herum und las die meiste Zeit. Die Nächte waren gefüllt mit einer Menge Geschichten, aber wenn sie es schaffte, etwas Schlaf zu bekommen und irgendwann am Nachmittag aufwachte, wollte sie nicht auch noch darüber reden.
Als der Austausch von Alltäglichkeiten vorbei war, hatten sie sich ein wenig geküsst, aber es war alles sehr jugendfrei. Wieder einmal stellte Danielle fest, dass sie kein Problem damit hatte. Außerdem war sie seit Chloes Besuch deprimiert. Die Stimmungsstabilisatoren würden wahrscheinlich nicht einmal wirken, bis sie ihre zweite Pille vor dem Schlafengehen nahm.
Dank Chloes Besuch hatte Danielle an ihre Mutter, ihren Vater und die Kindheit gedacht, die wie ein verzerrtes Flimmern an ihr vorübergezogen war. Eigentlich wollte sie nur von Martin festgehalten werden − etwas, das sie sich selbst gegenüber eingestehen musste.
Sie hatten sich auf eine ihrer DVDs geeinigt, ›Die Verurteilten‹ eingelegt und sich wie ein paar nervöse und unerfahrene Teenager auf der Couch zusammengerollt. Bei einigen Gelegenheiten rutschte seine Hand etwas tiefer über ihre Schulter und sie fragte sich, ob er versuchte, etwas weiter zu gehen. Aber er blieb anständig, was sowohl erfrischend als auch ärgerlich war.
Sie bemerkte auch, dass sein Telefon ein paar Mal vibrierte. Es lag auf ihrem Couchtisch direkt vor ihnen, aber er wollte nicht nachsehen. Zuerst nahm sie an, er sei nur höflich und wollte ihre gemeinsame Zeit nicht stören. Aber nach einer Weile − Danielle glaubte, dass es wenigstens sieben oder achtmal vibriert hatte − fing es an, lästig zu werden.
Gerade als Tim Robbins sich im Büro des Direktors einsperrte und Opernmusik aus der Sprechanlage des Shawshank-Gefängnisses dröhnte, vibrierte es ein weiteres Mal. Danielle sah zum Telefon und dann zu Martin.
»Willst du nicht nachschauen?«, fragte sie. »Jemand scheint dich wirklich zu brauchen.«
»Nein, es ist alles gut«, sagte er. Er zog sie näher heran und streckte sich mit ihr auf der Couch aus. Sie lagen Seite an Seite. Wenn sie wollte, könnte sie leicht seinen Hals küssen. Sie betrachtete den exponierten Raum dort und dachte darüber nach. Sie fragte sich, wie er reagieren würde, wenn sie ihn dort küsste, vielleicht sogar sanft ihre Zunge an seinem Hals entlang wandern ließe.
Das Telefon vibrierte wieder. Danielle stieß ein kleines Lachen aus und beugte sich ohne jede Vorwarnung über Martin. Sie nahm das Telefon und zog es an ihre Brust. Ihren Blick auf sein gesperrtes Display gerichtet, fragte sie: »Was ist dein Passcode?«
Martin riss ihr gewaltsam das Telefon aus der Hand. Er sah mehr überrascht als wütend aus. »Was sollte das denn?«, fragte er.