»Ich erinnere mich«, sagte er.
Riley schluckte ihre Nervosität runter und sagte: »Nun, ich wollte Ihnen schon immer sagen ... Sie haben mich wirklich zu meinem Psychologiestudium inspiriert.«
Hayman sah jetzt leicht verblüfft aus.
»Wow«, sagte er. »Das ist wirklich schön zu hören. Danke.«
Für einen Moment sahen sie sich etwas unbeholfen an. Riley hoffte, dass sie sich nicht zum Narren machte.
Schließlich sagte Hayman: »Schau, ich habe dir in dem Kurs Aufmerksamkeit geschenkt - die Arbeiten, die du schreibst, die Fragen, die du stellst, die Ideen, die du mit allen teilst. Du hast einen scharfen Verstand. Und ich habe das Gefühl, du hast Fragen zu dem, was mit deiner Freundin passiert ist, über das die meisten anderen Studenten nicht nachdenken - und vielleicht auch nicht nachdenken wollen.«
Riley schluckte wieder. Natürlich hatte er Recht, beinahe schon auf unheimliche Weise.
Das ist Empathie, dachte sie.
In Gedanken kehrte sie in die Nacht des Mordes zurück, als sie vor Rheas Zimmer stand und sich gewünscht hatte, hineingehen zu können, als ob sie etwas Wichtiges lernen würde, wenn sie nur in diesem Moment durch diese Tür gehen könnte. Aber dieser Moment war verflogen. Als Riley endlich hineingehen konnte, war das Zimmer aufgeräumt und sah aus, als wäre dort nie etwas passiert.
Sie sagte langsam ...
»Ich will wirklich verstehen, warum ... ich will es wirklich wissen ...«
Ihre Stimme verblasste. Konnte sie es wagen, Hayman - oder irgendjemand anderem - die Wahrheit zu sagen?
Dass sie den Verstand des Mannes verstehen wollte, der ihre Freundin ermordet hatte?
Dass sie sich fast in ihn hineinversetzen wollte?
Sie war erleichtert, als Hayman nickte und zu verstehen schien.
»Ich weiß, wie du dich fühlst«, sagte er. »Mir geht es genauso.«
Er öffnete eine Schreibtischschublade, nahm ein Buch heraus und gab es ihr.
»Du kannst dir das ausleihen«, sagte er. »Es ist ein großartiger Ansatz, um anzufangen.«
Der Titel des Buches lautete Der dunkle Verstand: Die Enthüllung der mörderischen Persönlichkeit.
Riley war überrascht zu sehen, dass der Autor Dr. Dexter Zimmerman selbst war.
Hayman sagte: »Der Mann ist ein Genie. Du kannst dir nicht vorstellen, welche Einsichten er in diesem Buch offenbart. Du musst es einfach lesen. Es könnte dein Leben verändern. Es hat meines verändert.«
Riley fühlte sich von Haymans Geste überwältigt.
»Danke«, sagte sie sanftmütig.
»Nicht der Rede wert«, sagte Hayman lächelnd.
Riley verließ das Klassenzimmer und verfiel in einen Trab, als sie aus dem Gebäude in Richtung Bibliothek ging, begierig darauf, sich mit dem Buch irgendwo hinzusetzen.
Gleichzeitig spürte sie ein stechendes Gefühl der Besorgnis.
»Es könnte dein Leben verändern«, hatte Hayman gesagt.
Zum Guten oder zum Schlechten?
KAPITEL SIEBEN
In der Universitätsbibliothek setzte sich Riley zum Lesen in einen kleinen Raum. Sie legte das Buch auf den Tisch und starrte auf den Titel - Der dunkle Verstand: Die Enthüllung der mörderischen Persönlichkeit von Dr. Dexter Zimmerman.
Sie war sich nicht sicher warum, aber sie war froh, dass sie das Buch hier und nicht in ihrem Zimmer im Studentenwohnheim lesen konnte. Vielleicht wollte sie einfach nicht unterbrochen werden oder gar gefragt werden, was sie gerade las und warum.
Oder vielleicht war es etwas anderes.
Sie berührte das Cover und fühlte ein seltsames Kribbeln ...
Angst?
Nein, das konnte es nicht sein.
Warum sollte sie Angst vor einem Buch haben?
Dennoch fühlte sie sich unwohl, als wollte sie etwas Verbotenes tun.
Sie öffnete das Buch und ihr Blick fiel auf den ersten Satz ...
Lange bevor er einen Mord begeht, hat der Mörder das Potenzial, diesen Mord zu begehen.
Als sie die Erklärungen des Verfassers zu dieser Aussage las, fühlte sie sich in eine dunkle und schreckliche Welt gleiten - eine unbekannte Welt, die sie aber auf mysteriöse Weise zu erforschen und zu verstehen versuchte.
Während sie die Seiten umblätterte, wurde ihr ein mörderisches Monster nach dem anderen vorgestellt. Sie traf Ted Kaczynski, genannt ›Der Unabomber‹, der mit Sprengstoff drei Menschen tötete und dreiundzwanzig andere verletzte.
Und dann war da noch John Wayne Gacy, der sich gerne als Clown verkleidete und Kinder auf Partys und Wohltätigkeitsveranstaltungen unterhielt. Er war in seiner Gemeinde beliebt und respektiert worden, auch wenn er heimlich dreiunddreißig Jungen und junge Männer, von denen er viele im Kriechkeller seines Hauses versteckt hatte, sexuell misshandelte und ermordete.
Riley war besonders fasziniert von Ted Bundy, der letztendlich dreißig Morde gestand - obwohl es noch viel mehr gegeben haben mag. Gutaussehend und charismatisch hatte er sich seinen weiblichen Opfern an öffentlichen Plätzen genähert und ihr Vertrauen gewonnen. Er beschrieb sich selbst als ›den kaltherzigsten Mistkerl, den Sie je treffen werden‹. Aber die Frauen, die er tötete, hatten seine Grausamkeit nie erkannt, bis es zu spät war.
Das Buch war voller Informationen über solche Mörder. Bundy und Gacy waren bemerkenswert intelligent, und Kaczynski war ein Wunderkind. Sowohl Bundy als auch Gacy waren von grausamen, gewalttätigen Männern aufgezogen worden, und sie hatten brutalen sexuellen Missbrauch erlitten, als sie jung waren.
Aber Riley fragte sich, was sie zu Mördern gemacht hatte. Viele Menschen wurden in ihrer Kindheit traumatisiert, ohne zu morden.
Sie grübelte über Dr. Zimmermans Text und suchte nach Antworten.
Nach seiner Einschätzung waren sich die mörderischen Straftäter bewusst, was richtig und was falsch war, und auch der möglichen Konsequenzen für ihr Handeln. Aber sie waren imstande, dieses Bewusstsein abzuschalten, um ihre Verbrechen zu begehen.
Zimmerman schrieb auch, was er in dem Kurs gesagt hatte - dass es den Killern an Einfühlungsvermögen fehlte. Aber sie waren exzellente Betrüger, die Empathie und andere gewöhnliche Gefühle vortäuschen konnten, was sie schwer zu erkennen und oft liebenswert und charmant machte.
Dennoch gab es manchmal sichtbare Warnzeichen. Zum Beispiel war ein Psychopath oft jemand, der Macht und Kontrolle liebte. Er erwartete, ohne großen Aufwand grandiose, unrealistische Ziele erreichen zu können, als wäre der Erfolg einfach sein Verdienst. Er würde alle Mittel einsetzen, um diese Ziele zu erreichen - nichts war tabu, wie kriminell und grausam es auch sein mochte. Gewöhnlich gab er anderen Leuten die Schuld an seinen Fehlern, und er log leicht und häufig ...
Rileys Verstand war von Zimmermans Fülle an Informationen und Einsichten überwältigt.
Aber beim Lesen dachte sie immer wieder an den ersten Satz im Buch ...
Lange bevor er einen Mord begeht, hat der Mörder das Potenzial, diesen Mord zu begehen.
Obwohl Mörder in vielerlei Hinsicht anders waren, schien Zimmerman zu sagen, dass es eine bestimmte Art von Person gab, die dazu bestimmt war zu töten.
Riley fragte sich - warum wurden solche Leute nicht rechtzeitig entdeckt und gestoppt wurden, bevor sie überhaupt damit anfangen konnten?
Riley