Riley bemerkte, dass ein anderer Mann das Klassenzimmer betreten hatte. Es war Dr. Dexter Zimmerman, der Vorsitzende der Psychologischen Abteilung. Zimmerman schien neben der Tür gestanden und der Diskussion aufmerksam zugehört zu haben.
Sie hatte im letzten Semester einen Kurs bei ihm gehabt - Sozialpsychologie. Er war ein älterer, zerknittert aussehender, freundlicher Mann. Riley wusste, dass Dr. Hayman zu ihm als Mentor aufblickte - ihn fast schon vergötterte. Auch viele Studenten taten das.
Rileys eigene Gefühle für Professor Zimmerman waren eher gemischt. Er war ein inspirierender Lehrer gewesen, aber irgendwie hatte sie nicht die gleiche Verbindung zu ihm aufgebaut wie die meisten anderen. Sie war sich nicht sicher, warum.
Hayman erklärte der Klasse: »Ich habe Dr. Zimmerman gebeten, vorbeizuschauen und an der heutigen Diskussion teilzunehmen. Er sollte uns wirklich helfen können. Er ist der einfühlsamste Typ, den ich je gekannt habe.«
Zimmerman errötete und kicherte ein wenig.
Hayman fragte ihn: »Was halten Sie von dem, was Sie gerade von meinen Studenten gehört haben?«
Zimmerman neigte den Kopf und dachte kurz nach.
Dann sagte er: »Nun, zumindest scheinen einige Ihrer Studenten zu denken, dass es hier eine Art moralischen Unterschied gibt. Wenn man es versäumt, jemandem zu helfen und er wird verletzt oder getötet, ist es falsch - aber es ist in Ordnung, wenn es keine negativen Konsequenzen gibt. Aber ich sehe keinen Unterschied. Das Verhalten ist identisch. Unterschiedliche Konsequenzen zeigen nicht wirklich, dass man sich richtig oder falsch verhalten hat.«
Eine Stille fiel über das Klassenzimmer, als Zimmermans Argument einzusinken begann.
Hayman fragte Zimmerman: »Bedeutet das, dass sich jeder hier wie Riley und Trudy mit Schuldgefühlen überhäufen sollte?«
Zimmerman zuckte mit den Achseln.
»Vielleicht trifft genau das Gegenteil zu. Tut das Schuldgefühl irgendjemandem gut? Wird es die junge Frau zurückbringen? Vielleicht gibt es angemessenere Dinge, die wir alle jetzt fühlen sollten.«
Zimmerman trat vor den Schreibtisch und stellte Blickkontakt zu den Studenten her.
»Diejenigen von euch, die Rhea nicht sehr nahe standen, sagt mir: Wie fühlt ihr euch für ihre beiden Freunde, Riley und Trudy?«
Im Raum war es für einen Moment still.
Dann war Riley erstaunt, ein paar Schluchzer im Klassenzimmer zu hören.
Ein Mädchen sagte mit erstickter Stimme: »Oh, ich fühle mich so schrecklich für sie.«
Ein anderer Student sagte: »Riley und Trudy, ich wünschte, ihr würdet euch nicht schuldig fühlen. Das solltet ihr nicht. Was mit Rhea passiert ist, war schrecklich genug. Ich kann mir nicht einmal vorstellen, welchen Schmerz ihr gerade empfindet.«
Andere Studenten stimmten dem zu.
Zimmerman schenkte der Klasse ein verständnisvolles Lächeln.
Er sagte: »Ich schätze, die meisten von euch wissen, dass meine Spezialität kriminelle Pathologie ist. Mein Lebenswerk besteht darin, den Verstand eines Kriminellen zu ergründen. Und in den letzten drei Tagen habe ich darum gekämpft, dieses Verbrechen zu verstehen. Bis jetzt bin ich mir nur einer Sache sicher. Es war etwas Persönliches. Der Mörder kannte Rhea und wollte ihren Tod.«
Wieder kämpfte Riley darum, das Unverständliche zu begreifen ...
Jemand hasste Rhea genug, um sie zu töten?
Dann fügte Zimmerman hinzu: »So schrecklich das klingt, eines kann ich euch versichern. Er wird nicht wieder töten. Sein Ziel war Rhea, niemand sonst. Und ich bin zuversichtlich, dass die Polizei ihn bald finden wird.«
Er lehnte sich an den Rand des Schreibtisches und sagte: »Ich kann euch noch etwas sagen - wo immer der Mörder gerade ist, was auch immer er tut, er fühlt nicht, was ihr alle zu fühlen scheint. Er ist unfähig, Sympathie für das Leiden einer anderen Person zu empfinden - noch weniger für die Empathie, die ich in momentan in diesem Raum spüre.«
Er schrieb die Worte ›Sympathie‹ und ›Empathie‹ auf die große Tafel.
Er fragte: »Möchte mich jemand an den Unterschied zwischen diesen beiden Worten erinnern?«
Riley war etwas überrascht, dass Trudy ihre Hand hob.
Trudy sagte: »Sympathie ist, wenn man sich darum kümmert, was jemand anderes fühlt. Empathie ist, wenn man die Gefühle eines anderen teilt.«
Zimmerman nickte und notierte Trudys Definitionen.
»Genau«, sagte er. »Also schlage ich vor, dass wir alle unsere Schuldgefühle beiseite legen. Konzentriert euch stattdessen auf unsere Fähigkeit zur Empathie. Sie unterscheidet uns von den schrecklichsten Monstern der Welt. Sie ist kostbar - am allermeisten in einer Zeit wie dieser.«
Hayman schien mit Zimmermans Betrachtungen zufrieden zu sein.
Er sagte: »Wenn es für alle in Ordnung ist, sollten wir den heutigen Kurs an dieser Stelle abbrechen. Das war ziemlich heftig - aber ich hoffe, es war hilfreich. Vergesst nur nicht, dass ihr alle gerade ein paar ziemlich starke Gefühle verarbeitet - sogar diejenigen von euch, die Rhea nicht sehr nahe standen. Erwartet nicht, dass die Trauer, der Schock und der Schrecken in nächster Zeit verschwinden. Gebt ihnen Raum, sie sind Teil des Heilungsprozesses. Und habt keine Angst, die Betreuer der Fakultät um Hilfe zu bitten. Oder euch untereinander. Oder mich und Dr. Zimmerman.«
Als die Studenten von ihren Pulten aufstanden, um zu gehen, rief Zimmerman ...
»Wenn ihr rausgeht, umarmt Riley und Trudy. Sie könnten es gebrauchen.«
Zum ersten Mal während des Kurses heute fühlte sich Riley genervt.
Was lässt ihn denken, dass ich eine Umarmung brauche?
Die Wahrheit war, Umarmungen waren das Letzte, was sie im Moment wollte.
Plötzlich erinnerte sie sich - das war die Sache, die sie an Dr. Zimmerman nicht gemocht hatte, als sie einen seiner Kurse besucht hatte. Er war viel zu kuschelig für ihren Geschmack, und er war sehr empfindlich, was viele Dinge anbelangte, und er sagte den Schülern gerne, dass sie sich umarmen sollten.
Das schien ihr für einen Psychologen, der sich auf kriminelle Pathologie spezialisiert hatte, etwas merkwürdig.
Es erschien ihr auch seltsam für einen Mann, der so viel Einfühlungsvermögen besaß.
Woher wollte er denn wissen, ob sie und Trudy umarmt werden wollten oder nicht? Er hatte sich nicht einmal die Mühe gemacht zu fragen.
Wie einfühlsam war das denn?
Riley konnte nicht umhin zu glauben, dass der Typ ein Heuchler war.
Dennoch stand sie stoisch da, während ein Schüler nach dem anderen sie wohlwollend umarmte. Einige von ihnen weinten. Und sie konnte sehen, dass Trudy diese Aufmerksamkeit überhaupt nicht störte. Trudy lächelte bei jeder Umarmung durch ihre eigenen Tränen.
Vielleicht bin nur ich es, dachte Riley.
Stimmte etwas nicht mit ihr?
Vielleicht hatte sie nicht die gleichen Gefühle wie andere Menschen.
Bald war die Umarmerei vorbei, und die meisten Studenten hatten den Raum verlassen, auch Trudy. Genau wie Dr. Zimmerman.
Riley war froh, einen Moment mit Dr. Hayman allein zu sein. Sie ging auf ihn zu und sagte: »Danke für das Gespräch über Schuld und Verantwortung. Ich musste das wirklich hören.«
Er lächelte sie an und sagte: »Ich bin froh, dass ich helfen konnte. Ich weiß, dass es bestimmt sehr schwer für dich ist.«
Riley senkte für einen Moment den Kopf und sammelte ihren Mut, ihm etwas zu sagen, was sie ihm eigentlich schon lange hatte sagen