„Dökterli[116]“, sagte er, „ich möchte nun wirklich einmal ganz genau wissen, warum ihr meinem braven Gastmann den Schmied auf den Hals gehetzt habt[117]. Was sich nämlich dort im Jura abspielt, das geht die Polizei nun doch wohl einen Dreck an, wir haben noch lange nicht die Gestapo.“
Lutz war wie aus den Wolken gefallen.[118] „Wieso sollen wir deinem uns vollständig unbekannten Klienten den Schmied auf den Hals gehetzt haben?“ fragte er hilflos. „Und wieso soll uns ein Mord nichts angehen?“
„Wenn ihr keine Ahnung davon habt, dass Schmied unter dem Namen Doktor Prantl, Privatdozent für amerikanische Kulturgeschichte in München, den Gesellschaften beiwohnte, die Gastmann in seinem Hause in Lamboing gab, muss die ganze Polizei unbedingt aus kriminalistischer Ahnungslosigkeit abdanken“, behauptete von Schwendi und trommelte mit den Fingern seiner rechten Hand aufgeregt auf Lutzens Pult.
„Davon ist uns nichts bekannt, lieber Oskar“, sagte Lutz, erleichtert, dass er in diesem Augenblick den lang gesuchten Vornamen des Nationalrates gefunden hatte. „Ich erfahre eben eine große Neuigkeit.“
„Aha“, meinte von Schwendi trocken und schwieg, worauf Lutz sich seiner Unterlegenheit immer mehr bewusst wurde und ahnte, dass er nun Schritt für Schritt[119] in allem werde nachgeben müssen, was der Oberst von ihm zu erreichen suchte. Er blickte hilflos nach den Bildern Traffelets, auf die marschierenden Soldaten, die flatternden Schweizer Fahnen, den zu Pferd sitzenden General. Der Nationalrat bemerkte die Verlegenheit des Untersuchungsrichters mit einem gewissen Triumph und fügte schließlich seinem Aha bei, es gleichzeitig verdeutlichend:
„Die Polizei erfährt also eine große Neuigkeit; die Polizei weiß also wieder gar nichts.“
Wie unangenehm es auch war und wie sehr das rücksichtslose Vorgehen von Schwendis seine Lage unerträglich machte, so musste doch der Untersuchungsrichter zugeben, dass Schmied weder dienstlich bei Gastmann gewesen sei, noch habe die Polizei von dessen Besuchen in Lamboing eine Ahnung gehabt[120]. Schmied habe dies rein persönlich unternommen, schloss Lutz seine peinliche Erklärung. Warum er allerdings einen falschen Namen angenommen habe, sei ihm gegenwärtig ein Rätsel.
Von Schwendi beugte sich vor und sah Lutz mit seinen rotunterlaufenen, verschwommenen Augen an. „Das erklärt alles“, sagte er, „Schmied spionierte für eine fremde Macht.“
„Wie meinst du das?“ fragte Lutz hilfloser denn je.
„Ich meine“, sagte der Nationalrat, „dass die Polizei vor allem jetzt einmal untersuchen muss, aus was für Gründen[121] Schmied bei Gastmann war.“
„Die Polizei sollte vor allen Dingen[122] zuerst etwas über Gastmann wissen, lieber Oskar“, widersprach Lutz.
„Gastmann ist für die Polizei ganz ungefährlich“, antwortete von Schwendi, „und ich möchte auch nicht, dass du dich mit ihm abgibst[123] oder sonst jemand von der Polizei. Es ist dies sein Wunsch, er ist mein Klient, und ich bin da, um zu sorgen, dass seine Wünsche erfüllt werden.“
Diese unverfrorene Antwort schmetterte Lutz so nieder, dass er zuerst gar nichts zu erwidern vermochte. Er zündete sich eine Zigarette an, ohne in seiner Verwirrung von Schwendi eine anzubieten[124]. Erst dann setzte er sich in seinem Stuhl zurecht und entgegnete:
„Die Tatsache, dass Schmied bei Gastmann war, zwingt leider die Polizei, sich mit deinem Klienten zu befassen[125], lieber Oskar.“
Von Schwendi ließ sich nicht beirren. „Sie zwingt die Polizei vor allem, sich mit mir zu befassen, denn ich bin Gastmanns Anwalt“, sagte er. „Du kannst froh sein, Lutz, dass du an mich geraten bist; ich will ja nicht nur Gastmann helfen, sondern auch dir. Natürlich ist der ganze Fall meinem Klienten unangenehm, aber dir ist er viel peinlicher, denn die Polizei hat bis jetzt noch nichts herausgebracht. Ich zweifle überhaupt daran, dass ihr jemals Licht in diese Angelegenheit bringen werdet.“
„Die Polizei“, antwortete Lutz, „hat beinahe jeden Mord aufgedeckt, das ist statistisch bewiesen. Ich gebe zu, dass wir im Falle Schmied in gewisse Schwierigkeiten geraten sind[126], aber wir haben doch auch schon – er stockte ein wenig – beachtliche Resultate zu verzeichnen. So sind wir von selbst auf Gastmann gekommen, und wir sind denn auch der Grund, warum dich Gastmann zu uns geschickt hat. Die Schwierigkeiten liegen bei Gastmann und nicht bei uns, an ihm ist es, sich über den Fall Schmied zu äußern[127], nicht an uns. Schmied war bei ihm, wenn auch unter falschem Namen; aber gerade diese Tatsache verpflichtet die Polizei, sich mit Gastmann abzugeben, denn das ungewohnte Verhalten des Ermordeten belastet doch wohl zunächst Gastmann. Wir müssen Gastmann einvernehmen und können nur unter der Bedingung davon absehen, dass du uns völlig einwandfrei erklären kannst, warum Schmied bei deinem Klienten unter falschem Namen zu Besuch war, und dies mehrere Male, wie wir festgestellt haben.“
„Gut“, sagte von Schwendi, „reden wir ehrlich miteinander. Du wirst sehen, daß nicht ich eine Erklärung über Gastmann abzugeben habe, sondern dass ihr uns erklären müsst, was Schmied in Lamboing zu suchen hatte. Ihr seid hier die Angeklagten, nicht wir, lieber Lutz.“
Mit diesen Worten zog er einen weißen Bogen hervor, ein großes Papier, das er auseinanderbreitete und auf das Pult des Untersuchungsrichters legte.
„Das sind die Namen der Personen, die bei meinem guten Gastmann verkehrt haben[128]“, sagte er. „Die Liste ist vollständig. Ich habe drei Abteilungen gemacht. Die erste scheiden wir aus, die ist nicht interessant, das sind die Künstler. Natürlich kein Wort gegen Kraushaar-Raffaeli, der ist Ausländer; nein, ich meine die inländischen, die von Utzenstorf und Merligen. Entweder schreiben sie Dramen über die Schlacht am Morgarten[129] und Niklaus Manuel[130], oder sie malen nichts als Berge. Die zweite Abteilung sind die Industriellen. Du wirst die Namen sehen, es sind Männer von Klang, Männer, die ich als die besten Exemplare der schweizerischen Gesellschaft ansehe. Ich sage dies ganz offen, obwohl ich durch die Großmutter mütterlicherseits von bäuerlichem Blut abstamme.“
„Und die dritte Abteilung der Besucher Gastmanns?“ fragte Lutz, da der Nationalrat plötzlich schwieg und den Untersuchungsrichter mit seiner Ruhe nervös machte, was natürlich von Schwendis Absicht war.
„Die dritte Abteilung“, fuhr von Schwendi endlich fort, „macht die Angelegenheit Schmied unangenehm, für dich und auch für die Industriellen, wie ich zugebe; denn ich muss nun auf Dinge zu sprechen kommen, die eigentlich vor der Polizei streng geheim gehalten werden müssten. Aber da ihr von der Berner Polizei es nicht unterlassen konntet, Gastmann aufzuspüren, und da es sich nun peinlicherweise herausstellt, dass Schmied in Lamboing war, sehen sich die Industriellen gezwungen, mich zu beauftragen, die Polizei, soweit dies für den Fall Schmied notwendig ist, zu informieren. Das Unangenehme für uns besteht nämlich darin, dass wir politische Vorgänge von eminenter Wichtigkeit aufdecken müssen, und das Unangenehme für euch, dass ihr die Macht, die ihr über die Menschen schweizerischer und nichtschweizerischer Nationalität in diesem Land besitzt, über die dritte Abteilung nicht habt.“
„Ich verstehe kein Wort von dem, was du da sagst“, meinte Lutz.
„Du hast eben auch nie etwas von Politik verstanden, lieber Lucius“, entgegnete von Schwendi. „Es handelt sich bei der dritten Abteilung um Angehörige einer fremden Gesandtschaft, die Wert darauf legt, unter keinen Umständen[131] mit einer gewissen Klasse von Industriellen zusammen