Bevor jedoch Bärlach weiterfahren konnte, wurde der Oberst noch wilder als der Nationalrat. Also Kommunist, stellte er fest, Sternenhagel, er lasse sich’s als Oberst nicht bieten, daß man herumschieße, wenn Musik gemacht werde. Er verbitte sich jede Demonstration gegen die westliche Zivilisation. Die schweizerische Armee werde sonst Ordnung schaffen![86]
Da der Nationalrat sichtlich desorientiert war, musste Bärlach zum Rechten sehen.
„Tschanz, was der Herr Nationalrat sagt, kommt nicht ins Protokoll“, befahl er sachlich.
Der Nationalrat war mit einem Schlag[87] nüchtern.
„In was für ein Protokoll, Mano?“
Als Kommissär von der Berner Kriminalpolizei, erläuterte Bärlach, müsse er eine Untersuchung über den Mord an Polizeileutnant Schmied durchführen. Es sei eigentlich seine Pflicht, alles, was die verschiedenen Personen auf bestimmte Fragen geantwortet hätten, zu Protokoll zu geben, aber weil der Herr – er zögerte einen Moment, welchen Titel er jetzt wählen sollte – Oberst offenbar die Lage falsch einschätze, wolle er die Antwort des Nationalrats nicht zu Protokoll geben.
Der Oberst war bestürzt. „Ihr seid von der Polizei“, sagte er, „das ist etwas anderes.“
Man solle ihn entschuldigen, fuhr er fort, heute Mittag habe er in der türkischen Botschaft gespeist, am Nachmittag sei er zum Vorsitzenden der Oberst-Vereinigung Heißt ein Haus zum Schweizerdegen gewählt worden, anschließend habe er einen Ehren-Abendschoppen[88] am Stammtisch der Helveter[89] zu sich nehmen müssen, zudem sei vormittags eine Sondersitzung der Partei-Fraktion gewesen, der er angehöre, und jetzt dieses Fest bei Gastmann mit einem immerhin weltbekannten Pianisten. Er sei todmüde.
Ob es nicht möglich sei, Herrn Gastmann zu sprechen, fragte Bärlach noch einmal.
„Was wollt Ihr eigentlich von Gastmann?“ antwortete von Schwendi. „Was hat der mit dem ermordeten Polizeileutnant zu tun?“
„Schmied war letzten Mittwoch sein Gast und ist auf der Rückfahrt bei Twann ermordet worden.“
„Da haben wir den Dreck“, sagte der Nationalrat. „Gastmann ladet eben auch alles ein, und da gibt es solche Unfälle.“
Dann schwieg er und schien nachzudenken.
„Ich bin Gastmanns Advokat“, fuhr er endlich fort. „Warum seid Ihr denn eigentlich ausgerechnet diese Nacht gekommen? Ihr hättet doch wenigstens telephonieren können.[90]“
Bärlach erklärte, dass sie erst jetzt entdeckt hätten, was es mit Gastmann auf sich habe.
Der Oberst gab sich noch nicht zufrieden.
„Und was ist das mit dem Hund?“
„Er hat mich überfallen, und Tschanz musste schießen.“
„Dann ist es in Ordnung“, sagte von Schwendi nicht ohne Freundlichkeit. „Gastmann ist jetzt wirklich nicht zu sprechen; auch die Polizei muss eben manchmal Rücksicht auf gesellschaftliche Gepflogenheiten nehmen. Ich werde morgen auf Ihr Bureau kommen und noch heute schnell mit Gastmann reden. Habt Ihr vielleicht ein Bild von Schmied?“
Bärlach entnahm seiner Brieftasche eine Photographie und gab sie ihm.
„Danke“, sagte der Nationalrat.
Dann nickte er und ging ins Haus.
Nun standen Bärlach und Tschanz wieder allein vor den rostigen Stangen der Gartentüre; das Haus war wie zuvor.
„Gegen einen Nationalrat kann man nichts machen“, sagte Bärlach, „und wenn er noch Oberst und Advokat dazu ist, hat er drei Teufel auf einmal im Leib. Da stehen wir mit unserem schönen Mord und können nichts damit anfangen.“
Tschanz schwieg und schien nachzudenken. Endlich sagte er: „Es ist neun Uhr, Kommissär. Ich halte es nun für das Beste, zum Polizisten von Lamboing zu fahren und sich mit ihm über diesen Gastmann zu unterhalten.“
„Es ist recht“, antwortete Bärlach. „Das können Sie tun. Versuchen Sie abzuklären, warum man in Lamboing nichts vom Besuch Schmieds bei Gastmann weiß. Ich selber gehe in das kleine Restaurant am Anfang der Schlucht. Ich muss etwas für meinen Magen tun. Ich erwarte Sie dort.“
Sie schritten den Feldweg zurück und gelangten zum Wagen. Tschanz fuhr davon und erreichte nach wenigen Minuten Lamboing.
Er fand den Polizisten im Wirtshaus, wo er mit Clenin, der von Twann gekommen war, an einem Tische saß, abseits von den Bauern, denn offenbar hatten sie eine Besprechung. Der Polizist von Lamboing war klein, dick und rothaarig. Er hieß Jean Pierre Charnel.
Tschanz setzte sich zu ihnen, und das Mißtrauen, das die beiden dem Kollegen aus Bern entgegenbrachten, schwand bald. Nur sah Charnel nicht gern, dass er nun anstatt französisch deutsch sprechen musste, eine Sprache, in der es ihm nicht ganz geheuer war. Sie tranken Weißen, und Tschanz aß Brot und Käse dazu, doch verschwieg er, dass er eben von Gastmanns Haus komme, vielmehr fragte er, ob sie noch immer keine Spur hätten.
„Non“, sagte Charnel, „keine Spur von assassin. On a rien trouvé, gar nichts gefunden.[91]“
Er fuhr fort, dass nur einer in dieser Gegend in Betracht falle, ein Herr Gastmann in Kolliers Haus, das er gekauft habe, zu dem immer viele Gäste kämen, und der auch am Mittwoch ein großes Fest gegeben habe. Aber Schmied sei nicht dort gewesen, Gastmann habe gar nichts gewusst, nicht einmal den Namen gekannt. „Schmied n’etait pas chez Gastmann, impossible.[92] Ganz und gar unmöglich.“
Tschanz hörte sich das Kauderwelsch[93] an und entgegnete, man sollte noch bei andern nachfragen, die auch an diesem Tag bei Gastmann gewesen seien.
Das habe er, warf nun Clenin ein, in Schernelz über Ligerz wohne ein Schriftsteller, der Gastmann gut kenne und der oft bei ihm sei, auch am Mittwoch hätte er mitgemacht[94]. Er habe auch nichts von Schmied gewusst, auch nie den Namen gehört und glaube nicht, dass überhaupt je ein Polizist bei Gastmann gewesen sei.
„So, ein Schriftsteller?“ sagte Tschanz und runzelte die Stirne, „ich werde mir wohl dieses Exemplar einmal vorknöpfen müssen. Schriftsteller sind immer dubios, aber ich komme diesen übergebildeten schon noch bei.“
„Was ist denn dieser Gastmann, Charnel?“ fragte er weiter.
„Un monsieur très riche[95]“, antwortete der Polizist von Lamboing begeistert. „Haben Geld wie das Heu und très noble[96]. Er geben Trinkgeld an meine fiancée[97] – und er wies stolz auf die Kellnerin – comme un roi, aber nicht mit Absicht um haben etwas mit ihr. Jamais.[98]“
„Was hat er denn für einen Beruf?“
„Philosophe.“
„Was verstehen Sie darunter, Charnel?“
„Ein Mann, der viel denken und nichts machen.“
„Er muss doch Geld verdienen?“
Charnel schüttelte den Kopf. „Er nicht Geld verdienen, er Geld haben. Er zahlen Steuern für das ganze Dorf Lamboing. Das genügt für uns, dass Gastmann ist der sympathischste Mensch im ganzen Kanton.“
„Es wird gleichwohl nötig sein“, entschied Tschanz, „dass wir uns diesen Gastmann noch gründlich vornehmen[99]. Ich